Seit den Korruptionsermittlungen im Dezember 2013 gegen die türkische Regierungspartei AKP herrschen in der Türkei heftige Diskussionen. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sieht in den Ermittlungen eine Verschwörung des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen. Der Prediger streitet dies ab. Mittlerweile gibt es im Internet Mitschnitte von angeblichen Telefonaten Erdogans, die der Ministerpräsident als „gefälscht“ bezeichnet: Seine Gegner wollten ihn vor der Kommunalwahl am 30. März stürzen.
Die Krise am Bosporus sorgt auch für Diskussionen unter den Türkischstämmigen im Westend. Sie verfolgen genau, was in der Türkei passiert, und haben dazu sehr unterschiedliche Meinungen.
„Atmosphäre der Angst“
Selvinaz Gündogan, 39, Friseurmeisterin: „Die aktuelle Lage in der Türkei macht mir große Sorgen. Die letzten Ereignisse zeigen, wie tief die Regierung im Korruptionssumpf steckt. Sie haben eine Atmosphäre der Angst geschaffen, haben viele Medien unter ihre Kontrolle gebracht. Sie treten die Menschenrechte mit Füßen, beschneiden die Freiheiten der Bürger und sind nicht transparent. Wenn sie kritisiert werden, versuchen sie, die Kritik zu unterdrücken. Autoren, Journalisten, Anwälte oder Politiker werden verhaftet, wenn sie sich gegen das vorherrschende System richten. Was ist zum Beispiel mit den Getöteten bei den Gezi-Protesten im Sommer?“
„Erdogan setzt sich für die Benachteiligten ein“
Ayse Özdemir, 42, Steuerfachangestellte: „Ich finde es ungerecht, wie der Ministerpräsident zurzeit angegriffen wird. Man sollte sich nur mal die Türkei anschauen, bevor Erdogan vor über zehn Jahren an die Macht gekommen ist. Heute hat die Türkei eine blühende Wirtschaft, aber auch in Bereichen wie Bildung hat er vieles erleichtert. Erdogan setzt sich für die Benachteiligten ein. Zum Beispiel können auch Frauen mit Kopftuch jetzt die Universität besuchen, im öffentlichen Dienst oder als Parlamentsabgeordnete tätig sein. Auch seine neuesten Projekte wie der dritte Flughafen in Istanbul zeigen, dass er das Land weiter voranbringen will.“
„Erdogan will ene Diktatur erreichen“
Tufan Yildiz, 28, Wirtschaftsingenieur: „Für mich wird immer klarer, dass Erdogan eine Diktatur erreichen will. Mit 50 Prozent der Wählerstimmen hat er die absolute Mehrheit und bringt alle Gesetze, die ihm dabei helfen, durch. Doch seit den letzten Vorfällen schlägt er immer verzweifelter verbal um sich. Ich habe auch gehört, dass sich für die Kommunalwahlen die Oppositionsparteien zusammentun. Sie wollen gemeinsam die Kandidaten wählen, die die größten Chancen gegen den AKP-Kandidaten haben. Die Regierungspartei wird wahrscheinlich einige wichtige Städte verlieren. Das wird wiederum – hoffentlich – Auswirkungen auf die Parlamentswahlen 2015 haben.“
„Niemand vor Erdogan hat sich getraut, das Kurdenproblem zu lösen“
Gürbüz Yildiz, 46, Selbstständiger: „Die Diskussionen sorgen teilweise dafür, dass sich auch hier die Türkischstämmigen spalten. Aber die Wähler von Erdogan werden – zurecht – an seiner Regierung festhalten. Dafür gibt es viele Gründe: Heute ist fast die ganze Türkei mit modernen Autobahnen versorgt, beim Thema Gesundheitsversorgung haben wir Fortschritte wie noch nie zuvor gemacht. Die AKP-Regierung hat das Militär und ihren Einfluss auf die Politik zurückgedrängt. Und das Wichtigste vielleicht: Niemand vor Erdogan hat sich getraut, das Kurdenproblem ernsthaft zu lösen. Heute fließt kein Blut mehr, er hat die Politik der Öffnung begonnen.“
Fotos & Text: Erdal Aslan
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