Hans Peter Schickel (77) lebt seit seiner Geburt im Westend. In seinem Blog erzählt er aus seinem Leben im Viertel. In der aktuellen Folge der Serie geht es um den Einmarsch der amerikanischen Truppen im Jahr 1945. Und Schickels ersten Kontakt als Kind mit den ausländischen Soldaten.

Der Einmarsch der US-Streitkräfte in der Adolfstraße am 28. März 1945: Über die Adolfstraße marschieren Infanteristen in Richtung Luisenplatz.
Im Laufe des März 1945 trat für uns insofern eine gewisse Entspannung ein, als keiner mehr mit einem zweiten großen Bombenangriff rechnete. Die Amerikaner standen bereits auf der anderen Rheinseite. Von dort beschossen sie Wiesbaden und trafen im Westend den Balkon im ersten Stock des Eckhauses an der Schwalbacher- und der Wellritzstraße (in dem heute die Firma Günay ihren Handel betreibt).
Gefährliches Spiel mit Munition
Alle Kriegsgefahren waren also noch nicht gebannt – und selbst gemachte kamen noch hinzu: Über Nacht hatten Wehrmachtseinheiten die Gersdorff-Kaserne an der Schiersteiner Straße (nach 1945 Camp Lindsey, heute Europaviertel) verlassen, waren also sang- und klanglos abgezogen. Wie aus deren Beständen Kästen voller Kleinkalibermunition (KK) in die Hände Jugendlicher gelangten, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls waren sie plötzlich verfügbar.
Die Patronen wurden als Feuerwerksknaller in die Winkel zwischen den Hauswänden und dem Bürgersteig geballert. Wir Kinder machten begeistert mit. Dass die Projektile gefährliche Querschläger sein konnten, war vielen von uns nicht bewusst. Keiner kümmerte sich darum. Eines der mir anvertrauten KK-Geschosse wollte partout nicht losgehen und hatte nach mehreren Versuchen bereits eine völlig deformierte Hülse. Ich klopfte mit einem Stein wild darauf herum. Mit einem Mal rauschte nach einem heftigen Knall das Projektil pfeifend an meinem Ohr vorbei. Glück gehabt! Das hätte auch ins Auge gehen können. Meine Lust an diesem „Waffengang“ war damit schlagartig beendet.
Erste Apfelsine im Leben
Ende März, exakt am 28. (laut Stadtarchiv) kamen sie, etwa um die Mittagszeit. Eine schier endlos scheinende Fahrzeugkolonne rollte aus Richtung Hauptbahnhof den Bismarckring entlang. Einige GIs saßen auf den Türmen ihrer gepanzerten Fahrzeuge und spielten gegenseitig Fangball mit orangefarbenen „Bällen“, die sie für uns Kinder fallen ließen – die erste Apfelsine in meinem Leben. Dass es ein dunkelhäutiger GI war, der mir zu dieser Erfahrung verhalf, verdoppelte meinen ersten Eindruck. Denn Menschen mit brauner Hautfarbe hatte ich bis dahin ebenfalls nicht gesehen.
Die Kampftruppen machten schließlich einen etwa einstündigen Halt und besetzten alle Privatwohnungen rings um den Sedanplatz. Die GIs hingen in den geöffneten Fenstern, zündeten eine Zigarette nach der anderen an und ließen sie kurz angeraucht in die Vorgärten fallen. Der so demonstrierte Überfluss verfehlte seinen Eindruck nicht, zumal die Zigaretten im Vergleich zur deutschen Kriegsware ellenlang waren. Bald waren die Vorgärten mit Pall Mall-Kippen im Kingsize-Format dicht übersät. Sobald die Fronttruppen abgezogen waren, wurden sie die Beute begehrlicher Raucher.

Amerikanische Truppen in der Schwalbacher Straße vor der altkatholischen Kirche im Sommer 1945. Ein Wiesbadener Bub beobachtet die ausländischen Soldaten.
„Häv ju scheffingumm“
Die Begegnung zwischen uns Kindern und den später endgültig hier stationierten GIs war trotz des anfänglichen „Fraternisierungsverbots“ der Army (Erlass 1944: „Zwischen alliierten Truppen und deutschen Beamten sowie der Bevölkerung ist die Verbrüderung streng zu unterbinden.“) von Freundlichkeit bestimmt. Das Bettelverbot meiner Mutter schlug ich in den Wind. Meiner Frage in Pidgin-Englisch „häv ju scheffingumm“ verdankte ich so manchen Erfolg mit Peppermint-Geschmack…
Text: Hans Peter Schickel
Fotos: Stadtarchiv
Gepostet in: //Allgemeines, //Westend, Schickels Geschichten des Westends
Tags: 1945, Amerikaner, Amis, Einmarsch, Hans Peter Schickel, Westend, Wiesbaden, Zweiter Weltkrieg