Hans Peter Schickel (77) lebt seit seiner Geburt im Westend. In seinem Blog erzählt er aus seinem Leben im Viertel. In der aktuellen Folge der Serie geht es um die Zeit im Wiesbaden der Nachkriegszeit. Die Trümmerbahn, die auch das Westend von den Spuren der Bombenangriffe befreite, war für Schickel und andere Kinder eine spannende Attraktion.

So sahen die Loren (Schienen-Transportwagen) der Trümmerbahn von oben aus. Das Foto hat ein US-amerikanischer Soldat aufgenommen und folgendermaßen beschriftet: „Bild vom Turm der katholischen Kirche. Ich bin im Kirchturm ganz nach oben geklettert und habe dieses Foto gemacht.“
In den ersten Monaten des Jahres 1945 gab es nur wenige öffentliche Einrichtungen. Wir Schüler trauerten nicht darüber, dass die Schule immer unregelmäßiger stattfand und schließlich gänzlich ausfiel. In der Bilanz habe ich während der letzten Kriegsmonate und in der Zeit nach dem Einmarsch der Amerikaner etwa ein Dreiviertel Jahr lang keine Schule von innen gesehen. Wir Westend-Kinder besuchten eigentlich die Volksschule an der Lahnstraße (heute Albrecht-Dürer-Schule). Eine Grundschule im heutigen Sinne gab es nicht. Der Schulweg, die Lahnstraße hoch, galt als zu gefährlich.
Viel Müll am Bismarckring
Auch die Müllabfuhr funktionierte schon seit längerer Zeit nicht mehr. Seit dem nächtlichen Bombenangriff Anfang Februar 1945 häufte sich im Bismarckring entlang der Allee zwischen den kräftigen Stämmen der Platanen der Schutt aus zerstörten Häusern. Er stammte zum Teil aus dem Schuttberg zwischen der Franken- und der Bleichstraße (später wurde dort das neue DGB-Haus errichtet). Dieser Schutt wurde zunehmend durch entsorgten Hausmüll ergänzt. Da die Mülltonnen nicht mehr regelmäßig geleert wurden, schütteten die Menschen ihren Dreck einfach in die Platanenallee am Bismarckring. Die Halden zwischen den Stämmen erreichten schließlich erhebliche Ausmaße, etwa die Brusthöhe eines erwachsenen Mannes.

Trümmerbeseitigung in der Wiesbadener Innenstadt, 1946. Loren räumen den Schutt aus den Straßen. Um welche Straßen es sich handelt, ist nicht bekannt.
Nicht lange nach dem Einmarsch der US-Truppen wurde in der Wellritzstraße die Schmalspurtrasse für eine Feldbahn angelegt. Die Gleise begannen in der vorderen Wellritzstraße, wurden entlang der gesamten Wellritzstraße bis in Höhe des Sedanplatzes geführt und bogen dort auf der rechten Seite der Allee (damals Fahrradweg) in Richtung Hauptbahnhof ab.
„Monte Scherbelino“
Soweit ich mich erinnere, führten die Gleise den heutigen ersten Ring entlang, wendeten sich dann nach rechts in die Schiersteiner Straße ab und endeten an der damaligen Wiesbadener Müllhalde rechts im oberen Bereich der Schiersteiner Lache. Dieser alte Müllberg – damals den Wiesbadenern als „Monte Scherbelino“ geläufig – ist heute völlig zugewachsen, in seinem hochgetürmten Ausmaß aber noch klar erkennbar.
Trümmerbahn als Spielplatz
Es lässt sich denken, dass diese Trümmerbahn mit ihren flinken dieselbetriebenen kleinen Zugmaschinen und den angehängten Muldenkipploren für uns Jungen die große Attraktion waren. Da war was los! Da die Gleisteile an den Verbindungsstellen nur verschraubt und nicht verschweißt waren (ein damaliger Standard auch im normalen Personen- und Güterverkehr), gaben die „Schläge“ beim Überfahren Laut. Wir nannten die Schmalspurzüge deshalb im selbst erfundenen Kinderjargon „Gong-Gong-Bahn“. Dieser Trümmerbahn verdankte die Wellritzstraße mit ihren Nebenstraßen eine in wenigen Wochen abgewickelte Befreiung von Schutt und Dreck im Dienste der Stadthygiene.
Platanen mit Dreitagebart
Als die Platanen im Bismarckring von den Halden befreit waren, boten sie ein seltenes, unter normalen Umständen nicht beobachtbares Bild: In der langen Zeit ihrer Umhüllung von Dreck und Asche hatten sie bis zur Höhe der Schutthaufen rings an ihren Stämmen kleine Wurzeln ausgebildet. Nach heutigen Sehgewohnheiten könnte man sagen – sie trugen einen Dreitagebart…
Text: Hans Peter Schickel
Fotos: Stadtarchiv
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