Hans Peter Schickel (77) lebt seit seiner Geburt im Westend. In seinem Blog erzählt er aus seinem Leben im Viertel. In der aktuellen Folge der Serie geht es um die Zeit im Wiesbaden der Nachkriegszeit: Aus Mangel an gesunden Lebensmitteln ging es für den kleinen Bub über die Behelfsbrücke nach Mainz.

Ein Floß passiert mit Unterstützung eines Schleppschiffs die Theodor-Heuss-Brücke. Im Hintergrund die Behelfsbrücke für die am 18. März 1945 von deutschen Pionieren gesprengte Kaiserbrücke. Aufnahme um 1948. Fotograf: Ernst Achilles (Mainz-Kastel)
Der Sommer 1945 brachte zwar die Befreiung von der Angst vor Bomben. Doch bald wurde klar, dass diese Zeiten auch neue Probleme mit sich brachten. Die Versorgungslage hatte sich spürbar verschlechtert. Es wäre ungerechtfertigt, von einer Hungersnot zu sprechen, zumal wir im Westen mit den US-Besatzern im Vergleich zu anderen Regionen ein besseres Los gezogen hatten. Aber die Verknappung der Nahrungsmittel vermittelte mir eine Ahnung davon, was Hunger bedeutet. Heranwachsende sind bekannt dafür, dass „Klimmzüge am Brotkorb“ zu ihren täglichen Übungen zählen. Da machte ich keine Ausnahme.
Kartoffeln auf Vorrat im Keller
Eine eiserne Reserve stand uns immerhin zur Verfügung: Es war damals üblich, im Herbst für den gesamten Winter im Voraus Kartoffeln einzukellern. Die Einkellerung wurde nach Kopfzahl der Familienmitglieder berechnet und die Kartoffeln zentnerweise eingelagert. Die Anlieferung erfolgte per Pferdefuhrwerk. Dieser Vorrat hatte eine gewisse Schutzfunktion, zumal die Kartoffel zu den wenigen Lebensmitteln zählt, bei der man trotz einseitiger Ernährung keine ernsten Mangelerkrankungen davon trägt.

Die Kaiserbrücke nach der Sprengung im März 1945. Rechts zu sehen die im Bau befindliche Behelfsbrücke. Fotograf: D. Neliba, Ginsheim
Wie prekär die Lage dennoch war, zeigt die Tatsache, dass meine Mutter und ich mit einem Säckchen Hafer, das wir von ländlichen Verwandten geschenkt bekommen hatten, zu Fuß über den Taunuskamm nach Hahn (heute ein Stadtteil der Gemeinde Taunusstein) zu einer Mühle wanderten, die diesen Hafer in Haferflocken tauschte. Zu meiner Enttäuschung handelte es sich beim Tauschgut nicht um Haferflocken, sondern um ungereinigten Quetschhafer, der von den Spelzen nicht befreit war. Der damit zubereitete Haferbrei schmeckte streng und grob. Es kostete Überwindung, ihn zu essen, zumal es unumgänglich war, die ungenießbaren Spelzen spuckend auszusortieren. Es war ein sehr schwacher Trost, von meiner Mutter zu hören, dass Hafer Pferde stark mache.
Mangel an Gemüse und Salat
Großer Mangel herrschte an frischem Gemüse und Salaten. Das ländliche Umfeld unserer Nachbarstadt Mainz hatte solches zu bieten. Aber Mainz gehörte inzwischen zur französischen Besatzungszone und war ohne Passierschein für Erwachsene nicht erreichbar. Anders wir Buben: Wir wurden an der Zonengrenze durchgelassen. In der Endphase des Krieges war von deutscher Seite die Straßenbrücke zwischen Kastel und Mainz gesprengt worden. Die Pioniere der Alliierten hatten sehr schnell eine hölzerne Behelfsbrücke als Ersatz errichtet, über die der Verkehr abgewickelt wurde.
„Bewaffnet“ mit einem Rucksack in Gesellschaft von einigen Schulkameraden machte ich mich auf „Hamsterfahrt“. Mit der Straßenbahn der Linie 6 fuhren wir bis zum Kasteler Brückenkopf. Da die Holzbrücke über keine Schienentrasse verfügte, ging es zu Fuß rüber zu anderen Seite und dort mit der „Elektrischen“ weiter nach Mainz-Gonsenheim.
Bei Erfolg mit Möhren, Zwiebeln, Rosenkohl und anderen Gemüsesorten konnte ich zuweilen meine Rückenlast kaum bewältigen. Aber es gab auch erfolglose Fahrten. Die beste Tauschwährung wären bei den Gonsenheimer Bauern amerikanische Zigaretten. Aber die hatte ich nicht.
Menschenfreund in harter Zeit
Ein Erlebnis ist mir unvergesslich geblieben: Nach einer erfolgreichen Hamsterfahrt, die ich allein unternommen hatte, stand ab dem Wiesbadener Hauptbahnhof kein Bus zur Verfügung. Ich hätte meine Last zu Fuß bis in die Wellritzstraße schleppen müssen. Ein junger Mann erbarmte sich und nahm sie mir ab. Er war groß und stark, und ich bangte während des langen Fußwegs in gespannter Ängstlichkeit um meine Schätze. Wie sich herausstellte, war er ein Redlicher, der mir selbstlos die Last bis nach Hause transportierte – ein Menschenfreund in harter Zeit.
Text: Hans Peter Schickel
Fotos:Stadtarchiv
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