Hans Peter Schickel (77) lebt seit seiner Geburt im Westend. In seinem Blog erzählt er aus seinem Leben im Viertel. In der neunten Folge der Serie geht es um die Vierzigerjahre in Wiesbaden. Die Straßen gehörten damals statt Autos noch den Kindern – und Pferdefuhrwerken.
Das Spielen auf der Straße war in den Vierzigerjahren mit wenig Risiko verbunden. Es gab so gut wie keine Autos und deshalb auch kaum motorisierte Bewegungen. Dies ist angesichts der heutigen „Blechlawine“ und des Parkgedränges für Nachgeborene sicher schwer vorstellbar. Bei Schneefall konnten wir beispielsweise die obere Walramstraße zur Rodelbahn umfunktionieren, ohne uns Gefahren des Straßenverkehrs auszusetzen.
Deshalb standen vierbeinige Pferdestärken hoch im Kurs. Das Rollkontor, die Bockenheimer Brotfabrik, auch die Paketpost und der Eismann lieferten ihre Güter per Pferdefuhrwerk aus. Wer „Eismann“ hört, assoziiert damit heutzutage wie selbstverständlich Speiseeis oder Eissalon – weit gefehlt. In der Zeit vor der elektrischen Kältetechnik wurden große rechteckige Eisstangen produziert und angeboten, die mit einem spitzen Stichel zerlegt wurden. Wer daheim einen Eisschrank hatte, konnte diese Eisstücke im oberen Bereich einlagern. Das Schmelzwasser umfloss, von einer Doppelwand getrennt, den inneren Bereich des Eisschrankes, in dem das Kühlgut eingelagert wurde. Für uns Jungen war der Eismann deshalb interessant, weil beim Zerlegen der Eisstangen stets Eissplitter absprangen. Diese „Lutscher“ waren trotz ihrer Geschmacklosigkeit hoch begehrt.

Die Langgasse diente damals noch als Straße für Autos und Fuhrwerke. Heute ist sie eine Fußgängerzone. Aufgenommen im April 1950.
Pferdetränke am Dürerplatz
Die großen, eisenbereiften Transportwagen waren in der Regel doppelt bespannt – mit zwei schweren stämmigen Kaltblütern, den Kraftprotzen unter den Pferden. Manches im Straßenbild war auf dieses Transportmittel ausgerichtet. So stand am Dürerplatz an der Westseite zwischen Lahn- und Aarstraße eine steinerne Pferdetränke, die aber in den Vierzigern von Fuhrleuten nicht mehr angesteuert wurde – es fehlte an nachgefülltem Wasser.
In der Mittagspause blieben die fleißigen Huftiere im Geschirr, dort, wo sie gerade im Tagesgeschäft angelangt waren, erhielten einen mit Häcksel und Hafer gefüllten Ledersack umgehängt:ihren Mittagssnack. Die Wellritzstraße war mit rechteckigen Basaltpflastersteinen bestückt, um den Stollen an den Hufen der Zugtiere in den Zwischenräumen Halt zu geben. (Bei der späteren Asphaltierung wurden diese Pflastersteine nicht entfernt, sie liegen dort nach wie vor unter der Asphaltdecke.) Lediglich der Straßenabschnitt vor der Gewerbeschule, dem heutigen GMZ Georg-Buch-Haus, war schon damals asphaltiert, um mit diesem „Flüsterbelag“ die Geräuschbelastung für den Unterricht zu minimieren.
Feuerwehr hilft Pferd auf die Beine
An feuchten Nebeltagen im Spätherbst passierte es dann immer wieder, dass die Pferde mit ihren Stollen auf dem glatten Straßenbelag beim Anziehen ausrutschten und stürzten. Ich erinnere mich an einen Vorfall, dass ein Pferd beim Sturz die Wagendeichsel zerbrach und der Fuhrmann trotz intensiver Bemühung das Tier nicht mehr hoch bekam. Nur mit Hilfe der Feuerwehr konnte es wieder auf die Beine gehievt werden.
Die Hinterlassenschaften der Pferde gehörten damals zum Straßenbild. Profiteure vom reichen Angebot an Pferdeäpfeln waren die Sperlinge, die in den darin enthaltenen Getreideresten ihr Auskommen fanden. Von einem Menschen, der zu übertriebener Selbstdarstellung neigte, hieß es damals: „Der wirft sich in die Brust wie ein Spatz in die Knüttel.“
Jäger und Sammler in Sachen Pferdemist
Aber nicht nur für die gefiederten Freunde waren Pferdeäpfel interessante Objekte. Bei Gartenbesitzern waren sie als Naturdünger heiß begehrt. Immer wenn das vertraute Geräuschbild „Hufeklappern und Rollgeräusch“ zu hören war, gab es einen Run der Sammler auf diesen Mist. Meine Eltern waren glückliche Gartenbesitzer. Die mir zufallende Aufgabe brauche ich nicht zu erläutern – in Sachen Pferdemist war ich damals Jäger und Sammler.
Text: Hans Peter Schickel
Fotos:Stadtarchiv (R. Tebben)
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