Hans Peter Schickel (78) lebt seit seiner Geburt im Westend. In seinem Blog erzählt er aus seinem Leben im Viertel. In der elften Folge der Serie geht es um die Folgen der „Reichspogromnacht“1938.
Am 9. November jährt sich zum 76. Mal das Verbrechen der Nazis an der jüdischen Bevölkerung, das als „Reichspogromnacht“ den Auftakt für den späteren Holocaust bildete. Reichsweit verloren zwischen dem 7. und 13. November 1938 rund 400 jüdische Menschen ihr Leben. Über 1400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie Tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört. Wegen des dabei massenweise zu Bruch gegangenen Glases war für diese Schandtat sogleich der Begriff „Reichskristallnacht“ üblich.

In der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die Synagoge am Michelsberg mehrfach in Brand gesetzt und zerstört. Die Außenmauern wurden 1939 abgerissen.
Antisemitische Gewaltorgie
Als am 10. November die wunderschöne Synagoge im orientalischen Stil am Michelsberg der braunen Brandstiftung zum Opfer fiel, war ich zwar schon auf der Welt, aber als Zweijähriger noch nicht in der Lage, das Ereignis wahrzunehmen, geschweige denn zu begreifen. Was ich darüber weiß, beruht auf den Schilderungen meiner Mutter, die das Ereignis immer wieder mit Abscheu schilderte.
Meine Mutter war mit dem Ehepaar Julius und Flora Rothschild gut bekannt. Die Rothschilds betrieben in der vorderen Wellritzstraße ein Geschäft für Berufskleidung. Als meine Mutter von der antisemitischen Gewaltorgie des 9./10. Novembers erfuhr, eilte sie in aufgeregter Sorge dorthin. Sie schilderte später immer wieder ihren Schrecken, den sie empfand, als sie im ersten Eindruck in einer hinter den geborstenen Schaufenstern liegenden Figur den erschlagenen Sohn der Familie Rothschild zu erkennen glaubte. Dieser war damals etwa 18 Jahre alt. Zu ihrer Erleichterung stellte sich beim näheren Hinschauen heraus, dass es sich bei dieser Figur um eine umgefallene Schaufensterpuppe handelte.
Eltern überleben nicht, Sohn emigriert
Dem Sohn blieben KZ und Holocaust erspart, weil er gleich nach der Reichspogromnacht emigrierte. Wie ich erst sehr spät erfuhr, lebte er in Südafrika und besuchte seine Heimatstadt Wiesbaden immer wieder, solange es seine Gesundheit zuließ. Leider habe ich keine Gelegenheit gehabt, ihn kennenzulernen. Seine Eltern, beide Jahrgang 1882, überlebten die Judenverfolgung nicht. Sie wohnten bis zu ihrer Deportation im Bismarckring Nr. 18. Julius Rothschild wurde am 18. Dezember 1938 im KZ Buchenwald ermordet. Flora Rothschild, geborene Strauß, wurde 1941 nach Lodz deportiert und kam im Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno) ums Leben. Ihr genaues Todesdatum ist nicht bekannt. Beiden sind vor dem Haus im Bismarckring 18 Stolpersteine gewidmet.
Ich bin in der Wellritzstraße 47 aufgewachsen. Zu diesem eher schmalbrüstigen Wohngebäude gehörte in einer Grundstückseinheit auch die breit angelegte Nr. 45 (Ecke Walramstraße). Beide Häuser gehörten der jüdischen Familie Kahn. Sie wurden „arisiert“, wie die Nazis das nannten. Das heißt, die Grundstücke mussten zum Vorzugspreis an nichtjüdische Interessenten zwangsveräußert werden. An diesen Enteignungen war der Nazi-Oberbürgermeister Erich Mix verantwortlich beteiligt, dem nach dem Krieg eine zweite Karriere ermöglicht wurde.
Traditionelles Leben
Nutznießer in diesem Fall war der Installations- und Spenglermeister Stahl, der in der Seerobenstraße nahe des Dürerplatzes wohnte. Er war bis zum Kriegsende unser Hausherr. Danach musste er die Anwesen Wellritzstraße 45 und 47 an die überlebende Tochter von Frieda Kahn zurückgeben. Auch an Frieda Kahn erinnert vor dem Haus Wellritzstraße 45 ein Stolperstein. Sie wurde 1942 deportiert und in Sobibor ermordet.

An die von den Nationalsozialisten ermorderten Eheleute Rothschild erinnern vor dem Haus Bismarckring 18 zwei Stolpersteine.
Das Aktive Museum Spiegelgasse (AMS) hat sich im Dezember 2010 mit der Geschichte osteuropäischer Juden im Westend von 1889 bis zur Deportation zahlreicher Juden aus diesem Viertel im Jahr 1942 beschäftigt. Das Leben im „ostjüdischen Westend“ kann man als einen eigenen, ganz speziellen Mikrokosmos begreifen. Von den etwa 130 jüdischen Familien osteuropäischer Herkunft wohnten rund 60 im Westend.
Sie führten ein traditionelles Leben mit eigener Infrastruktur (Betraum, Lebensmittelläden, Handwerksbetrieben u.a.) und gehörten mehrheitlich dem unteren sozial-ökonomischen Milieu an. Trotzdem waren Kontakte zu Christen und liberalen Juden als Kunden in ihren Gebrauchtwaren-, Kleider- und Antiquitätengeschäften selbstverständlich. Ich werde es nie begreifen und mich niemals damit abfinden, dass es auch in unserer Stadt möglich war, Wiesbadener Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens nicht nur aus der Stadtgesellschaft zu entfernen, sondern ihnen auch konkret und brutal das Lebensrecht abzusprechen.
Text: Hans Peter Schickel
Fotos: Stadtarchiv, Hans Peter Schickel, Aktives Museum Spiegelgasse
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