Hans Peter Schickel (78) lebt seit seiner Geburt im Westend. In seiner Kolumne erzählt er aus seinem Leben im Viertel. In der 13. Folge der Serie geht es um den Andreasmarkt.
Wann der erste Andreasmarkt stattfand, bleibt das Geheimnis der Geschichte. Nach Auffassung des früheren Stadtarchivars und -historikers Christian Spielmann könnte es um 1350 gewesen sein. Sicher ist das freilich nicht: Die Urkunden, die es eindeutig belegen könnten, gingen bei einem verheerenden Brand im Jahr 1547 verloren. Sicher ist, dass Graf Philipp von Nassau-Idstein bereits im Katastrophenjahr die alten Privilegien der Stadt erneut bestätigte. Danach durfte Wiesbaden wöchentlich zwei Markttage abhalten, zudem vier Jahrmärkte nach den kirchlichen Feiertagen Jubilate, Johann, Michael und Andreas. Andreastag ist im Kirchenkalender der 30. November.
In der vorindustriellen, bäuerlichen Lebenswelt machte es Sinn, vor Wintereinbruch noch einen Jahrmarkt durchzuführen: Mägde und Knechte wurden um Martini herum ausbezahlt und konnten sich so für den Winter mit warmer Kleidung eindecken. Dies erklärt, warum der Andreasmarkt jährlich zu Beginn der Adventszeit zum mehrtägigen Ereignis wurde.
Eine Geschichte voller Umzüge
In den jüngeren Jahrzehnten seiner Existenz war der Markt fest mit dem Elsässer Platz verbunden – das war keineswegs immer so! Er durchlief eine wechselvolle Geschichte der Umzüge: 1567 wurde er „in der Gass“ zwischen Marktplatz und Uhrturm abgehalten. 1850 wanderte er in die Neugasse und Kirchgasse, ab 1866 in die Luisen- und Friedrichstraße. 1882 residierte er auf der noch wenig befahrenen Rheinstraße.
Erst 1899 zog er endgültig ins Westend –auch innerhalb dieses Stadtteils zunächst ohne feste Bleibe: 1903 auf dem Blücherplatz, 1905 in Wellritz- und Bleichstraße und am Faulbrunnen, 1907 auf dem Blücherplatz. 1910 machte er mit seinen Buden und Fahrbetrieben erstmals Bekanntschaft mit dem Elsässer Platz. Nachdem er 1924 noch einmal in die Waldstraße ausgelagert wurde, kehrte er danach endgültig dorthin zurück.
Im Zweiten Weltkrieg wurde dem Markt eine Zwangspause verordnet. In der frühen Nachkriegszeit begann ein zaghafter Neuanfang. Hier beginnen meine Erinnerungen. 1945 bestand der Andreasmarkt aus einem Kettenkarussell, das an der Einmündung der Klarenthaler in die Dotzheimer Straße aufgestellt war. Die weitere Entwicklung brachte dem Markt –dank Wirtschaftswunder – einen lebhaften Aufschwung. Seine größte Ausdehnung erreichte er in den 50er und frühen 60er Jahren. Neben dem Elsässer Platz beanspruchte er Teile von Blücherplatz und -straße. Der „Dippemarkt“, der vor allem in bäuerlicher Zeit den Familien zur Auffrischung ihres Geschirrbestandes diente, war in der Klarenthaler Straße jenseits der Gneisenaustraße zu finden.
Zuckerwatte und Autoscooter
In seinen Glanzzeiten konnte er mit einem breiten Sortiment aufwarten: Losbuden, zahlreiche Schießbuden und einen „Hau den Lukas“, auf dem man mit einem Vorschlaghammer seine Muskelkraft präsentieren konnte. Für das leibliche Wohl sorgten Wurstbratereien, die auch streng riechende saure Nieren offerierten. Zuckerwatte, vor den Augen der Kinder im Kupferkessel hergestellt, Süßigkeiten aller Art, Alkoholisches und Nichtalkoholisches ergänzten die Palette. Zu den Fahrbetrieben zählten schon damals Autoscooter, eine Geisterbahn, ein Riesenrad, eine Berg- und Talbahn sowie ein Lachkabinett, dessen Spiegel den Gast in grotesk veränderten Figuren abbildeten.
Aber die Welt entwickelte sich weiter. Mit ihr der Zeitgeist. Käme heute jemand auf die Idee, außergewöhnliche Erscheinungsformen des Menschen (z.B. „der Mann mit dem Vogelkopf“) gegen Eintritt begaffen zu lassen, er würde mit seinem Vorhaben nicht nur anstößig wirken, sondern sicher auch keine Standgenehmigung erhalten. Überdies entwickelte sich die Technik der Fahrbetriebe in Richtung „immer höher und schneller“. Schließlich konnte das in seinen Ausmaßen gewachsene Riesenrad auf dem Elsässer Platz, der eine sanfte Schräglage in Richtung Blücherstraße aufweist, aus statischen Gründen nicht mehr aufgestellt werden.
Allmählich verlor der Andreasmarkt zunehmend an Attraktivität. Die Anzahl der Schausteller und Besucher entwickelte sich von Jahr zu Jahr rückläufig, mit ihnen die Umsätze. Dies veranlasste den Ortsbeirat Westend/ Bleichstraße in seiner Sitzung am 4. Februar 2009, den Andreasmarkt der Gibber Kerbegesellschaft zu übereignen. Damit waren die Anwohner das nervende Freiräumen des Parkplatzes Elsässer Platz mit einem Schlag los. Die Gibber freuten sich indes über dieses Geschenk nicht sonderlich, und so ging der Andreasmarkt vor fünf Jahren – von wenigen betrauert – sang- und klanglos unter. Dies bedeutet zweifellos den Bruch mit einer Jahrhunderte alten Wiesbadener Tradition. Es ist jedoch tröstlich und erfreulich, dass der Markt, der in den letzten Jahren seiner Existenz eher ein Rummel war, einen würdigen Nachfolger gefunden hat: den glitzernden Sternschnuppenmarkt mit seiner gediegenen Atmosphäre.
Fotos: Stadtarchiv
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