Die Freude kannte keine Grenzen mehr auf dem Platz der Deutschen Einheit. Deutschland stand am 2. Juli nach dem Sieg gegen Italien im Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft. Zum ersten Mal während dieser EM brachen auch bei den deutschen Fans, mit und ohne Migrationshintergrund, alle Dämme. Unser Video von der ausgelassenen Feier wurde mehrfach auf Facebook kommentiert. Nicht wenige Nutzer kritisierten – mal mehr, mal weniger mit Augenzwinkern –, das seien ja kaum Deutsche, die da jubeln, sondern größtenteils Ausländer. Eine Kritik, die fehl am Platze ist, meint Erdal Aslan, Wiesbadener mit türkischen Wurzeln und redaktioneller Leiter von Mensch!Westend. Warum gemeinsames Feiern die Gesellschaft eint – ein Kommentar:

Deutschlaaaand: Wiesbadener aller Couleur feiern bei der EM gemeinsam auf dem Platz der Deutschen Einheit. Foto: Erdal Aslan
Von Erdal Aslan
Mitten unter den Hunderten Fans auf dem Platz der Deutschen Einheit lagen sich fünf, sechs Jungs in den Armen. „Deutschland, Deutschland“ skandierten sie, geschlossen im Kreis hüpfend. Unter ihnen einige aus der benachbarten iranischen Moschee. Auf der anderen Seite stimmte ein Deutscher mit ausländischen Wurzeln eine Gruppe auf das bei Fußballfans beliebte „Humba“-Lied ein. Ursprünglich ein Karnevalslied aus Mainz, deutscher geht‘s nicht.
Doch diese Fans sind nicht deutsch, meinen einige Facebook-Nutzer, ob sie nun Thomas oder Ali heißen. Sie verkennen, wie wichtig es für uns als Gesellschaft ist, was da so nebenbei im Siegestaumel passiert.
Kommentare auf Facebook:
“Deutsche?! ich sehe da fast keinen Deutschen.” Angelo P.
“Hab mir das Video angesehen und versucht die Deutschen zu zählen !!!!!!
Hab es aufgegeben finde keine…” Thomas S.“Das ist doch irgendwo in Marokko, oder?” Mike F.
Ja, es waren wirklich viele Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund unter den Jubelnden. Und bestimmt mischten sich unter die Feierwütigen auch einige, die einfach die Chance auf eine spontane Party nutzen wollten. Doch die meisten haben sich in Schwarz-Rot-Gold gehüllt, die deutsche Fahne ausgepackt oder das deutsche Trikot übergestreift, um Deutschland zu feiern. Solche Momente sollten wir zu schätzen wissen.
Wir-Gefühl im Gewusel
Man muss eine gemeinsame Siegesfeier nach einem Fußballspiel nicht überbewerten, eine Party wischt nicht alle Probleme einfach weg. Und ja, wir haben noch einiges vor uns, was die Eingliederung einiger Bevölkerungsgruppen in unsere Gesellschaft betrifft. Doch gerade durch den immens einenden Effekt eines Fußballevents entsteht im Gewusel ein Wir-Gefühl, das wir im multikulturellen Wiesbaden und im Westend brauchen. Denn unsere Gesellschaft ist bunt gemischter als je zuvor, und wird es auch bleiben. Deshalb sollte man seine Bedenken und Sorgen auch mal ablegen, und es begrüßen, wenn nicht sogar genießen, dass sich Wiesbadener aller Couleur so offen zu Deutschland bekennen. Gerade in Zeiten, in denen Rechtspopulisten eine Hochkonjunktur erleben und das Land spalten wollen.
Und man sollte sich vielleicht, bevor man einen Kommentar in sozialen Netzwerken unbedacht platziert, in die jungen Menschen hineinversetzen. Menschen, die endlich akzeptiert werden wollen. Nicht wenige leben seit ihrer Geburt zwischen den Kulturen, versuchen ihren Identitäten gerecht zu werden. Wenn sie mit diesem Land mitfiebern und mitfeiern, sie dann aber vor den Kopf gestoßen werden mit Aussagen wie der, dass sie „ja eigentlich nicht deutsch sind“, kann man sich ausmalen, was das mit ihrer Bindung zu dieser Gesellschaft macht.
„Deutsch“ sind viele allein deswegen schon, weil sie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. So definiert es das Grundgesetz. Dass sie eine andere Haar- und Hautfarbe haben, wird diese Tatsache nicht ändern. Und wenn jemand nicht den deutschen Pass hat, ist er zumindest Teil dieser Gesellschaft, wenn er so empfindet.
Ausgrenzung geschieht nicht immer mit böser Absicht
Ausgrenzung geschieht nicht immer bewusst oder mit böser Absicht. Manchmal sind es beiläufige Bemerkungen, etwa wenn Deutschstämmige ihr Gegenüber ärgern wollen. Während dieser gerade bei einem Spiel der Deutschen für Deutschland mitfiebert, heißt es plötzlich: „Spielt ihr Polen eigentlich auch mit?“ oder „Wie habt ihr Türken eigentlich abgeschnitten?“ Wohl wissend, dass diese Nationen schon aus dem Turnier geflogen sind. Oft, wenn von „wir“ und „ihr“ gesprochen wird, ist das nicht abwertend gemeint, aber doch ausgrenzend.
Diese Wortwahl gebrauchen allerdings einige Migranten selbst und untermauern damit ebenfalls das Trennende. Auch die Kommentare auf Facebook, die spöttisch von „Ausländern, die da feiern“ sprechen, kamen zum Teil von Menschen mit ausländischen Wurzeln. Es ist absolut legitim, sich stärker mit dem Land seiner Eltern zu identifizieren und dieses anzufeuern. Genauso müssen es einige Migranten aber akzeptieren, wenn sich andere Migranten mit Deutschland verbunden fühlen und auch die DFB-Elf anfeuern.
„Die Mannschaft“ – ein Vorbild
Die deutsche Nationalmannschaft nennt sich seit einiger Zeit offiziell nur noch „Die Mannschaft“. Diese Bezeichnung wurde dem deutschen Team ursprünglich im Ausland verliehen, weil Deutschland dafür bewundert wird, dass es als Team so gut funktioniert. Es steht für Geschlossenheit und Einsatz für den Mitspieler. Das Team ist gespickt mit Spielern wie Özil oder Boateng, Spielern mit Migrationshintergrund. Doch dieser spielt keine Rolle. Dass es diese Kicker gibt, spiegelt nur die gesellschaftliche Realität wider und hilft einigen Migranten, sich stärker mit dem DFB-Team zu identifizieren.
Die Mannschaft zeigte auch bei dieser EM mit einer leichtfüßigen Selbstverständlichkeit, wie deutsche Einheit auf dem Platz im Jahr 2016 geht. Und die Wiesbadener Fans taten es ihnen beim Jubel auf dem Platz der Deutschen Einheit nach. Dieses Wir-Gefühl gilt es zu stärken. Dafür sollten wir nicht bis zum nächsten Fußballturnier warten.
UMFRAGE: Ab wann ist man deutsch? (Für Antworten auf Bilder klicken)
- Abdullah Düzgün, 52, Frührentner: „Wenn einige meinen, ich sei nicht deutsch, muss ich zurückfragen: Was sind denn die Kriterien für das Deutschsein, wenn man mal vom Pass absieht? Ich lebe seit über 30 Jahren hier, engagiere mich für die Gesellschaft. Da bin ich als jemand mit türkischem Pass wahrscheinlich sogar deutscher als so mancher Deutschstämmiger. Wenn junge Leute mit ausländischen Wurzeln die deutsche Fahne schwenken und mit Deutschland feiern, ist dies doch das beste Beispiel für Integration. Wenn sie dann immer noch nicht als Deutsche akzeptiert werden, kann sich bei ihnen die Haltung einstellen: Egal, was ich mache, ich werde hier nicht akzeptiert werden. Bevor wir türkisch oder deutsch sind, sind wir zuallererst alle Menschen. Wir feiern mit unseren Nachbarn, und wir trauern mit ihnen. Gerade Sport wie auch Kunst oder Musik können uns verbinden. Wer das nicht versteht, ist einfach ignorant.“
- Hayat Mahioui, 25, Erziehungs- und Islamwissenschaftlerin: „Rechtlich gesehen bin ich deutsch, ich besitze die deutsche Staatsangehörigkeit. Doch ich werde nicht als Deutsche wahrgenommen, das zeigt mir die Erfahrung. Ich sehe nicht so aus, wie man sich wohl eine Deutsche vorstellt. Dabei fühle ich mich mehr deutsch als marokkanisch, denn ich spreche besser deutsch, habe deutsche Charaktereigenschaften, verbringe hier die meiste Zeit. Wenn das die Kategorien sind, bin ich klar deutsch. Für mich war es vor allem in der Jugend frustrierend, nicht als Deutsche akzeptiert zu werden. Heute kann ich damit reflektierter umgehen. Wenn mich jemand nach meinem Heimatland fragt, antworte ich Deutschland. Auch wenn ich weiß, worauf die Frage abzielt. Aber ich hoffe, dass mein Gegenüber erkennt, dass diese Frage ausgrenzend sein kann. Beruflich arbeite ich zum Thema Identitätskonflikte mit Jugendlichen, und merke, wie sehr sie sich ausgegrenzt fühlen. Sie haben zum Beispiel eine Marokko-Flagge als Profilbild auf Facebook, obwohl sie kaum die Sprache sprechen, noch das Land wirklich kennen.“ Hayat Mahioui, 25, Erziehungs- und Islamwissenschaftlerin
- Klaus Gabelmann, 73, Rentner und Ortsbeiratsmitglied: „Deutsch sein steht auf mehreren Säulen: der Sprache, dem Bekenntnis zum Grundgesetz und dem Willen, sich voll in die Gesellschaft zu integrieren und seinen Beitrag zu leisten. Bei einem Großteil, der hier wohnt, ist das auch der Fall. Vor allem im inneren Westend wünscht man sich aber, dass Integration auch im Hinblick auf Sauberkeit und die Straßenverkehrsordnung gelingt. Gerade Letzteres ist für manche ein unbekanntes Buch. Wenn gemeinsam nach Fußballspielen gefeiert wird, fördert das bestimmt die Integration. Dass einige dann kritisieren, dass vor allem Ausländer feiern, liegt auch daran, dass sie nicht typisch deutsch aussehen. Wenn sie nicht mitgefeiert hätten, hätte man das auch kritisiert. Vor 30 Jahren hätte man sich wahrscheinlich weniger vorstellen können, dass Migranten die deutsche Fahne schwenken. Die Gastarbeiter waren nur zum Arbeiten hier. Ähnlich wie etwa die Südosteuropäer heute, die nur temporär hier sind. Aber auch dann erwartet man, dass Gesetze und Regeln eingehalten werden und ‚mitgespielt‘ wird.“
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