Ohne ein Selfie lassen sie ihn nicht gehen. Alle wollen ein Erinnerungsfoto mit dem kleinen alten Mann von den Philippinen machen, bei dem vor Jahrzehnten schon Martial-Arts-Ikone und Hollywood-Star Bruce Lee in die Geheimnisse seiner Kampfkunst eingeweiht werden wollte. „Diony“ Cañete blickt durch seine Brille geduldig in jedes Handy und lächelt.

Mit Stock und Händen im Nu außer Gefecht gesetzt: Großmeister Diony Cañete besucht bei seiner Abschiedstour auch die Kampfkunstschule „Gan Dao“ in der Sedanstraße.
Dass ein besonderer Gast im „Gan Dao – Institut für fernöstliche Kampfkünste“ in der Sedanstraße zu Besuch ist, lässt allein schon der fast demütige Respekt erahnen, mit dem die Anwesenden Cañete begegnen. Eben hatten sie noch die seltene Ehre mit der „lebenden Legende“, wie ihn nicht nur Gan-Dao-Leiter Burhan Tonguc nennt, zu trainieren. Sie durften bewundern, wie der einzige „Supreme Grandmaster“ der Welt die traditionelle philippinische Kampfkunst Eskrima (siehe Info unten) regelrecht zelebriert. Mit zwei knapp 80 Zentimeter langen Holzstöcken wirbelte er flink und geschmeidig, als würde er mit Leichtigkeit seinem Alter trotzen. „Ich war sieben Jahre alt, als ich angefangen habe. Heute bin ich 79 Jahre jung!“, sagt Cañete lachend, der noch täglich trainiert.
Symbol der Unabhängigkeit
Doch eben wegen seines Alters reist der weltbekannte Großmeister ein letztes Mal durch Europa. „Ich bin zum ersten Mal in Wiesbaden. Die Architektur hier ist außergewöhnlich schön.“ Auf seiner Abschiedstour will sich Cañete nochmal vergewissern, wie das Erbe seiner Familie fernab seiner Heimat weitergelebt wird. „Mein Großvater hat Anfang des 20. Jahrhunderts den ersten Eskrima-Club gegründet, aber die Geschichte geht noch viel weiter zurück.“

Supreme Grandmaster Diony Canete in Aktion.
Der Legende nach existiert Eskrima seit Jahrhunderten. Der erste historische belegte Philippiner, der sie im Krieg praktizierte, ist der Freiheitskämpfer und Nationalheld Lapu Lapu. Er besiegte 1521 in der Schlacht von Mactan die einfallenden Spanier um Ferdinand Magellan. Fortan galt Eskrima auch als Symbol der Unabhängigkeit. „Es ist viel mehr als eine Kampfkunst für uns, es ist Kultur, Tradition und Lifestyle der Philippiner“, erklärt Cañete. Eine Kultur, die sie aber jahrhundertelang nur im Geheimen ausleben konnten. Denn den Spaniern gelang es Jahre später doch, die Philippinen zu besetzen. Die Ausübung der Kunst wurde 1764 offiziell von der Kolonialmacht verboten. „Die Philippiner versteckten daraufhin ihren Kampf in Folkloretänzen, um unentdeckt zu trainieren. Statt Schwertern benutzten sie Holzstöcke, für die Eskrima heute bekannt ist“, erzählt Cañete. So sind auch die rhythmischen Bewegungen zu erklären, die zum Teil eher nach Tanz denn Kampf aussehen.
Den Kampfsport „zivilisiert“
Erst im Jahr 1932 hat Dionys Großvater, Großmeister Eulogio „Yoling“ Cañete, den berühmten „Doce Pares Club“ in der Stadt Cebu gegründet. Seine Nachfahren entwickelten die Stile weiter, denn Eskrima ist ein sich ständig wandelndes, anpassungsfähiges System. „Es gab viele Schulen, die verschiedene Stile mit und ohne Waffen trainierten – und unter sich Todeskämpfe ausrichteten.“ Um die Kampfkunst zu „zivilisieren“, um sie mehr zu einem Sport zu machen, pochte Diony auf Regeln bei Kämpfen. „Sonst sah ich keine Chance, dass sie die nächsten Generationen überlebt, die langsam den Bezug zu Eskrima verloren.“ Er musste dicke Bretter bohren. Aber das Beharren hatte Erfolg: Er entwickelte ein Vollkontakt-Stockkampf-System im Wettbewerbsmodus, der weltweit angenommen wurde. Auch die Schutzanzüge kreierte Diony, das Patent liegt bei ihm.

Viele Liebhaber des Eskrima reisten aus der Region an, um gemeinsam mit Diony Cañete der Gan-Dao-Schule von Burhan Tonguc (stehend, Dritter von rechts) zu trainieren.
Echter Martial Artist lässt sich nicht provozieren
„Leider haben sich meine Verwandten auch lange gegen eine Weitergabe des Wissens gewehrt, so dass ich Bruce Lee nie unterrichten konnte, obwohl er bei uns angefragt hatte“, bedauert Cañete. Als er 1973 die Freigabe erhielt, ist Bruce Lee just in diesem Jahr gestorben. Aber er hatte die Gelegenheit, Lees Filmpartner, den Philippiner Dan Inosanto, zu trainieren, der den Kampfstil in den USA berühmter machte.
Cañete kann mit Stolz auf sein Lebenswerk zurückblicken. Besonders glücklich ist er, dass seine Doce-Pares-Schule als einzige Akademie vom Staat anerkannt ist und er das einzige Eskrima-Curriculum entwickeln konnte, das heute von der philippinischen Schulbehörde eingesetzt wird. „Eskrima oder Martial Arts allgemein fördert den guten Charakter, bringt den Menschen Disziplin, Respekt vor Älteren bei. Man lernt, wie man studieren muss, wie man geduldig wird.“ Ein echter Martial Artist sei nie aggressiv oder leicht zu provozieren, verhindere soweit es geht den Kontakt mit seinem Gegner. „Eskrima ist auch eine spirituelle Philosophie, die beeinflusst, wie wir uns grüßen, miteinander umgehen. Die Kämpfer sollen rechtschaffen sein.“
„Wir brauchen mehr den Charakter von Material Artists und weniger Trump“
Eigenschaften, die seinem „unterentwickelten Land“ abhandengekommen seien. „Ich habe als erster Rechtsanwalt der Welt meine Lizenz abgegeben, aus Protest gegen die korrupte Regierung. Ich wollte ein Zeichen setzen.“ Überhaupt beobachtet er ein Abdriften der Welt, die vielen Brandherde machen ihm Sorgen. „Wir müssen uns viel stärker für die Demokratie einsetzen. Wir brauchen mehr den Charakter von Martial Artists und weniger Trump.“
Text & Fotos: Erdal Aslan
INFO: Eskrima & Doce Pares
Eskrima (vom Spanischen „fechten“), auch Arnis genannt, ist eine philippinische Kampfkunst, die mit verschieden langen Stöcken, einem Messer oder Schwert, aber auch mit leeren Händen und Hebelgriffen ausgeführt wird. Ziel ist es, den Angreifer schnell und effektiv außer Gefecht zu setzen. Beim modernen Doce-Pares-Eskrima-Multistyle-Sytem der Cañetes werden viele verschiedene Techniken und taktische Elemente zu einem Stil mit und ohne Waffen zusammen gefasst. Das „Doce Pares“ verbreitete sich rasant und erfreut sich inzwischen weltweit großer Beliebtheit.
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