Es ist erst nur ein winziger Punkt auf dem Radar. Fast gar nicht zu erkennen. Marco van Marle blickt durch sein Fernglas. Der Westendler befindet sich auf der „Sea Eye“, ein Schiff der gleichnamigen Hilfsorganisation. Der 26 Meter lange ehemalige Fischkutter steuert langsam auf den Punkt zu. Schon bald kann van Marle Silhouetten erkennen, kurze Zeit später sind die ersten Köpfe der Menschen zu sehen. Viele Menschen. Rund 150 Flüchtlinge, die auf einem hoffnungslos überfüllten Schlauchboot orientierungslos auf dem Mittelmeer treiben, unweit der libyschen Küste.

Hoch konzentriert: Marco van Marle hält per Funk Kontakt zur Brücke des Schiffes „Sea Eye“. Im Hintergrund warten die bereits mit Schwimmwesten ausgestatteten Flüchtlinge auf weitere Hilfe. Der Westendler war zwei Wochen mit einer Hilfsorganisation im Mittelmeer unterwegs.
Sie haben nur einen Wunsch im Gepäck: das rettende italienische Ufer zu erreichen. Die Flüchtlinge, überwiegend aus Ostafrika, gehen mit der Aussicht auf ein besseres Leben ein hohes Risiko ein, um die 300 Kilometer weite Strecke bis zur Insel Lampedusa zurückzulegen. Alleine in diesem Jahr sind bisher laut Amnesty International über 2000 Flüchtlinge ertrunken oder gelten als vermisst. Das Mittelmeer ist ein großes Grab.
Hilfe für Flüchtlinge in Seenot
Die „Sea-Eye“ ist zusammen mit ihrem Schwesterschiff „Seefuchs“ im Mittelmeer unterwegs und hält Ausschau nach in Seenot geratenen Flüchtlingen. Sobald dieser winzige Punkt auf dem Radar auftaucht, steigt die Anspannung auf dem Schiff – jeder Handgriff muss nun sitzen. Das Beiboot wird mit einer vierköpfigen Besatzung zu Wasser gelassen und nähert sich den Flüchtlingen, um die Erstversorgung zu gewährleisten. Jeder ist hoch konzentriert und fokussiert sich auf die Aufgabe, die gleich auf ihn zukommen wird.

Hoffnungslos überfüllt: Nur eine falsche Bewegung reicht aus und das Schlauchboot würde kentern. Das wäre das Todesurteil für die Flüchtlinge, denn nur die wenigsten von ihnen können schwimmen. Foto: Bente Stachowske
Und dann geht alles ganz schnell. Das Beiboot umkreist das Schlauchboot, die Besatzung nimmt Kontakt mit den Flüchtlingen auf und stattet die Menschen mit Rettungswesten aus. „Wir müssen aufpassen, dass keine Panik auf dem Boot ausbricht“, sagt van Marle. Besonders beim Verteilen der Rettungswesten kann es hektisch werden. „Viele sorgen sich, keine Schutzweste zu bekommen. Manche sind sehr ängstlich, manche aber auch sehr erleichtert, dass sie nun in Sicherheit sind.“ Den Helfern wird oft vorgeworfen, dass sie durch ihr Einschreiten die Schlepper unterstützen. „Wir helfen nicht bei der Überfahrt, sondern achten darauf, dass niemand ertrinkt“, widerspricht van Marle (siehe auch Leitlinien von Sea-Eye).
„Ich wollte vor Ort helfen“
Der 33-Jährige war im Juni zwei Wochen lang mit der Hilfsorganisation vor der libyschen Küste unterwegs. Er beschäftigt sich schon lange mit dem Schicksal der Flüchtlinge. Irgendwann wurde ihm bewusst: „Ich will vor Ort helfen und nicht weiter von zu Hause aus zusehen.“ Auf „Sea-Eye“ stieß er zufällig. Eine andere Organisation suchte nur Maschinisten und Ärzte, „Sea-Eye“ benötigte auch „normales“ Personal. „Da habe ich mich einfach beworben. Darauf bekam ich einen Anruf, danach ging eigentlich alles recht schnell“, erinnert sich van Marle, der in Wiesbaden als Erzieher arbeitet und sich für den Einsatz Urlaub nahm.
- Die Flüchtlinge wollen die italienische Insel Lampedusa erreichen. Foto: Bente Stachowske
- Neue Aufgabe: Ein 26 Meter langer ehemaliger Fischkutter (Sea-Eye) liest in Seenot geratene Flüchtlinge auf. Foto: Bente Stachowske
- Auch Babys befinden sich unter den Flüchtlingen.Foto: Bente Stachowske
Nach Pfingsten flog er auf die Mittelmeerinsel Malta, wo die Organisation ihre Basis hat. Die Teilnehmer lernten dort in einer kurzen Einführung, wie man ein Boot zu Wasser lässt und wurden über das Leben und Arbeiten an Bord aufgeklärt. Eine von van Marles Aufgaben: Funken. Er hielt während der Einsätze Kontakt zu anderen Schiffen und informierte über die aktuelle Lage. „Aber eigentlich muss sich jeder ein wenig um alles kümmern und helfen, wo es gerade nötig ist“, erklärt van Marle. Die Crew besteht immer aus acht bis zehn Ehrenamtlern: ein Kapitän, ein Maschinist, ein Arzt und eben diese Allrounder, die für die Mission so wichtig sind. „Den ersten Tag auf See hat das Schiff ordentlich geschaukelt. Da bin ich richtig seekrank geworden“, sagt van Marle.
Er weiß aber, dass das nichts im Vergleich zu dem erschreckenden Zustand der Flüchtlinge ist. Sie haben weder zu Trinken noch zu Essen. Auch hochschwangere Frauen und Kinder befinden sich auf den notdürftig präparierten Booten, die von der libyschen Küste aus starten. „Schlepper verlangen für eine Überfahrt 500 bis 1000 US-Dollar in den Schlauchbooten, weitaus mehr in den vermeintlich sicheren Holzbooten“, berichtet der Wiesbadener. „Die Menschen arbeiten teilweise mehrere Jahre daraufhin, um sich die Flucht zu finanzieren. Die Männer auf Baustellen, manche Frauen sogar als Sexarbeiterinnen.“
Motoren werden geklaut
Für die Überfahrt verkaufen die Schlepper Schwimmwesten für 50 US-Dollar, die ihren Namen nicht verdient haben. „Da bekommt man in Deutschland für sieben Euro gebrauchte professionelle Westen“, weiß van Marle. Wer sich aufgrund der schlechten Bedingungen doch spontan gegen die Flucht entscheide, werde von den Schleppern kaltblütig erschossen. Keine Zeugen, keine Gefahr für die Kriminellen.
Zu allem Übel machen einige Schleuser Jagd auf die Motoren der Schlauchboote, um sie wieder zu verwenden. „Die manövrierunfähigen Boote driften dann im schlimmsten Fall wieder zurück an die libysche Küste“, erzählt van Marle. Zurück in die Hände der Schlepper. Und der Albtraum beginnt von vorne.
- Foto: Bente Stachowske
- Foto: Bente Stachowske
- Foto: Bente Stachowske
Wenn auch selten, erlebte der Wiesbadener einige kuriose Momente bei den insgesamt acht Rettungsaktionen im Laufe der Mission: „Als einer der Flüchtlinge mitbekommen hat, dass wir aus Deutschland kommen, stand er im Boot auf und fing zwischen allen Flüchtlingen an, die deutsche Hymne zu singen. Ich weiß bis heute nicht, woher er den Text und die Melodie kannte.“
Hinter van Marle liegen zwei sehr intensive Wochen. Er ist mittlerweile wieder zurück im Westend. Freunde und Verwandte sind froh, dass ihm bei dem lebensgefährlichen Einsatz nichts passiert ist. Eine Sache steht für Marco van Marle aber jetzt schon fest: „Nächstes Jahr bin ich wieder dabei!“
Text: Markus Grendel
Fotos: Bente Stachowske
Lesen Sie auch: „Wir leisten den Schleppern keine Hilfe!“ – Leitlinien der „Sea-Eye„
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