Freitagmorgen, 10 Uhr, Goebenstraße 22. Thomas Borowski mischt sich unter die Bieter und beobachtet unauffällig das Geschehen. Seine Arbeit ist längst getan, als der Gerichtsvollzieher zum Ausruf ansetzt: „Ein Euro zum Ersten, ein Euro zum Zweiten und ein Euro zum Dritten!“ – in nicht einmal zwei Minuten ist das Hab und Gut eines Menschen versteigert. Zwangsversteigert, weil er seine Mietschulden nicht begleichen konnte. In Plastik verpacktes Mobiliar und Elektrogeräte sind zu einem einstelligen Euro-Betrag verkauft. Rund ein Dutzend Händler tummeln sich im Lager der Pfandkammer Wiesbaden, um die nächsten aufgestapelten Kisten und spähen den Wert der Ware aus. Denn sie dürfen nicht in die verschlossenen Kartons sehen. Umso wertvoller der Inhalt, desto höher die Ausbeute beim Verkauf auf dem Flohmarkt.

Das Lager der Pfandkammer Wiesbaden im Westend birgt so manche Rarität. Unter den Räumungsposten befinden sich meist Möbel und Elektrogeräte. Manchmal ist auch ein Glücksgriff darunter.
Entrümpler Borowski begleitet alle Versteigerungen, bei denen das Eigentum von Schuldnern aus allen Stadtteilen immer am letzten Freitag eines Monats veräußert wird. Im Auftrag des Amtsgerichts Wiesbaden führen er und die zuständigen Gerichtsvollzieher Zwangsräumungen durch. Das Mobiliar und die Elektrogeräte einer Wohnung, der sogenannte Räumungsposten, wird immer als Gesamtpaket versteigert. „Das Makabere dabei ist, dass das Mindestgebot bei einem Euro liegen muss“, sagt der Entrümpler. „Die Versteigerungen sind teuer. Abholungs- und Lagerungsgebühren werden vom Gläubiger getragen. Und das treibt einige Gläubiger in Existenznot“, erklärt er. Borowski erinnert sich an die Geschichte eines Vermieters, der seinem Mieter die Schulden erließ und ihm darüber hinaus den Umzug zahlte, nur um den „Mietnomaden“ loszuwerden und die Kosten der Zwangsräumung zu sparen.
Schicksalhafte Begegnungen
In den vielen Jahren als Entrümpler hat Borowski sich ein dickes Fell zugelegt. Doch die Geschichte einer Spanierin mit körperlicher Beeinträchtigung, die kein Deutsch verstand, habe ihn emotional berührt. Den Brief des Amtsgerichts, der die Zwangsräumung vier Wochen vorher ankündigte, habe sie nicht verstehen können. „Ein Dolmetscher erklärte ihr dann, dass wir ihr Eigentum beschlagnahmen werden. Die Frau war völlig aufgelöst. Das war sehr schlimm.“
- Zugeschlagen: Direkt nach der Versteigerung nimmt ein Bieter die Ware mit.
- Versteigerungslokal im Hinterhof: Bevor die Versteigerung losgeht, liest der Gerichtsvollzieher die Bedingungen vor.
- Ort des Geschehens: Die Pfandkammer Wiesbaden sitzt in der Goebenstraße 22.
Zu einer Zwangsräumung wie im Fall der Spanierin kommt es, wenn der Mieter seine Miete länger nicht zahlt. Diese Schulden übernimmt das Amt für soziale Arbeit nicht. Fehlt dem Schuldner jedoch die Grundsicherung, also lebensnotwendiges Mobiliar wie etwa ein Bett, wird ihm diese nach der Versteigerung wieder neu vom Amt gestellt. „Das nenne ich Ironie“, sagt Borowski. Sammler Günter Vojtek und andere Bieter kennen nicht die Schicksale, die hinter der Ware stecken, die zum Billigpreis verhökert wird. Sie freuen sich über jedes Schnäppchen. „Ich habe mal eine Goldkette für zehn Euro ersteigert. Hinterher hat sich herausgestellt, dass sie mehr als 900 Euro wert ist. Das war der Glücksgriff meines Lebens“, sagt Vojtek, der an diesem Morgen aber nichts ersteigert.
Schattenseiten der Räumungen
Spediteur Borowski hat im Gegensatz zu Vojtek täglich mit den Schattenseiten der Räumungen zu tun. „Ich habe eine Wohnung gesehen, da hat sich ein Mensch erhängt, weil er wusste, dass wir sein Hab und Gut pfänden“, erinnert er sich. „Messie-Wohnungen gehören natürlich auch zu unserem Alltag. Es gibt Fälle, da sieht man den Schuldner nicht, weil die Wohnung voller Gerümpel steht.“ Andere Schuldner wiederum wollen ihr Eigentum nicht hergeben, dann muss die Polizei hinzugezogen werden. Auch das hat Borowski schon einige Male machen müssen.
In seiner langjährigen Berufszeit hat er aber auch schon so manche Kuriosität erlebt: „Natürlich gibt es auch Schuldner, die ihre Rücklasten innerhalb eines Tages zurückzahlen. Wie jemand, der Bargeld und Diamanten im Wert von einer Million Euro auf den Tisch legte.“Was er nie vergessen werde, sei die Pfändung eines Passagierflugzeuges am Frankfurter Flughafen. „Wir mussten rund 150 Passagieren sagen, dass der Flug ausfällt und sie nach Hause schicken. Das war schon absurd.“
Text: Adriana La Marca
Fotos: Erdal Aslan
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