Ich sitze in der Redaktion von Mensch!Westend, die erste Station meines Volontariats beim Wiesbadener Kurier. Es ist 30 Grad, drinnen wie draußen. Ich trinke einen Schluck erfrischend, kaltes Wasser und bin froh, dass ich das einfach so machen kann. Schräg gegenüber von mir sitzt Erdal Aslan, redaktioneller Leiter dieser Zeitung, und trinkt nicht. Zumindest nicht, solange die Sonne noch nicht untergegangen ist. Egal, wie heiß es ist. Egal, wie durstig er ist. Denn Erdal Aslan fastet im Ramadan. „Der Arme!“ denke ich. Einen ganzen Monat, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, nichts zu essen und zu trinken, „nur“ weil man seinem Gott näher kommen will, ist für mich schwer nachvollziehbar. Um besser zu verstehen, warum Ramadan für Erdal Aslan und viele Muslime ein besonderer Monat ist, gehe ich einen Abend mit in die Wiesbadener Sülemaniye Moschee an der Dotzheimer Straße zum Iftar (Fastenbrechen).

Volontärin Julia Kleiner mit den Gastgeberinnen Fatma, Zahide und Tahire (von links). Die Familien der drei Frauen haben das Essen für das Fastenbrechen an diesem Abend ausgegeben.
Männer und Frauen beten getrennt
Die Moschee liegt in einem Hinterhof. Am Eingang zieht man die Schuhe aus, bevor man den Teppich betritt. „In die Moschee soll kein Dreck hineingetragen werden“, erklärt mir Cigdem, eine Besucherin der Moschee. Mit ihr werde ich den Abend verbringen, denn hier beten Frauen und Männer getrennt. Der Gedanke, es strikt zu vermeiden, sich vom anderen Geschlecht ablenken zu lassen, ist für mich ein bisschen ungewohnt. Dennoch akzeptiere ich die Regeln. Schließlich bin ich hier zu Besuch.
Wir gehen die Treppe hoch in den Frauenbereich. Neben meiner Neugier steht vor allem der große Respekt vor der Moschee und dem Glauben. Denn ich merke, wie wichtig den Menschen dieser Ort und diese Lebensweise ist. An diesem Abend geht gegen 21.36 Uhr die Sonne unter und das Abendgebet läutet das Fastenbrechen ein. „Das Beten kannst du dir wie eine Meditation vorstellen. Es bringt Ruhe in deinen Alltag und entschleunigt ein bisschen.“
Enschleunigen wie beim Meditieren
Der Vergleich von Cigdem lässt mich schmunzeln. In dem Wunsch nach Entschleunigung habe ich mich direkt wiedererkannt. Auch ich meditiere oft, um nach einem anstrengenden Tag wieder entspannen zu können. Wir betreten den Gebetsraum der Frauen, dessen Teppich bestimmte Muster hat. „Sie markieren die Gebetsplätze für die einzelnen Personen und zeigen direkt nach Mekka“, erklärt Cigdem. Ich muss unweigerlich grinsen, was für eine witzige und clevere Idee.
Dann tönt der Gebetsruf – der für mich eher wie ein Gesang klingt – des Imams durch die Lautsprecher. Alle Frauen beten, doch die kleinen Kinder rennen weiter wild um die Betenden herum. Irgendwie irritiert mich das. Ist Beten nicht etwas Andächtiges, währenddessen Ruhe zu herrschen hat? „Wir gewähren den Kindern traditionell viel Toleranz in den Moscheen“, erklärt mir meine Begleiterin später. Mit dieser Einstellung sollen vor allem Kleinkinder positive Erfahrungen in der Moschee machen. Außerdem sollen Erwachsene in der Lage sein, die spielenden Kinder zu akzeptieren.

Das Essen für das Fastenbrechen wird jeden Abend von anderen Familien der Gemeinde bezahlt und organisiert.
Niemand stürzt sich auf das Essen
Das Fastenbrechen findet im Anschluss an das Abendgebet statt und kann sowohl in den Moscheen als auch außerhalb begangen werden. Jeden Abend aufs Neue ist es Anlass, mit Freunden und Familie zusammenzukommen. Mit anderen Frauen sitze ich nun gemeinsam an einer großen Tafel. Eine Dattel, mit der traditionell das Fasten gebrochen wird, liegt neben dem Teller und wird für viele heute die erste Mahlzeit sein. Trotzdem stürzt sich niemand auf das Essen, so wie ich es vermutet hatte.
„Im Ramadan wollen wir uns auf das Wesentliche besinnen und nachempfinden, wie es ist, so gut wie nichts zu haben“, sagt Cigdem. Es werden Suppe, Reisnudeln mit Gemüse ausgeteilt, dazu steht geschnittene Wassermelone auf dem Tisch. „Es würde nicht zum Ramadan passen, wenn wir uns abends den Bauch vollschlagen“, begründen Frauen am Tisch die sparsame Mahlzeit. Mir wird klar, dass es im Ramadan nicht darum geht, bis abends „durchzuhalten“, sondern über die gesamte Zeit enthaltsam zu sein und seinen Willen zu stärken.
„Der Glaube nimmt Last ab“
Das erinnert mich an das Fasten im Christentum. Ich frage mich, warum ich es noch nicht mal geschafft habe, vier Wochen lang keine Süßigkeiten zu essen. Und warum meine Religion keine Motivation für mich ist. Plötzlich verspüre ich tiefen Respekt vor diesen Frauen, die so selbstbewusst an ihrem Glauben festhalten. „Der Glaube bedeutet für mich, Last von den eigenen Schultern abzugeben. Denn viele Dinge passieren aus einem tieferen Sinn, den man oft erst auf den zweiten Blick erkennt“, erzählt mir Cigdem. Die 37-Jährige beschäftigt sich schon länger mit dem Islam, trägt aber erst seit fünf Jahren ein Kopftuch.
Es ist spät und schon bald löst sich die gesellige Runde auf. Ich schlendere mit vielen Eindrücken im Kopf Richtung Auto. Auch wenn Gott für mich immer noch keine Begründung oder Motivation ist: So habe ich doch verstanden, dass das Fasten im Ramadan keine Qual ist, sondern für gläubige Muslime eine wichtige Zeit, um zu sich selbst zu finden. Sollte ich wieder so einem Vorurteil auf den Leim gehen, werde ich an den Abend mit Cigdem in der Moschee zurückdenken und es besser wissen.
Text: Julia Kleiner
Fotos: Julia Kleiner, Erdal Aslan
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