Ein Gastbeitrag von Hans Peter Schickel, der seit seiner Geburt im Westend lebt. Er ist Mitglied des Ortsbeirats. Aufgrund der Ausschreitungen in Chemnitz und des Rechtsrucks im Land erinnert der 82-Jährige an die Verhältnisse während des Nazi-Regimes und an zwei ermordete Juden aus dem Westend, die Bekannte seiner Mutter waren.
Von Hans Peter Schickel
Ich bin in einer familiären Atmosphäre aufgewachsen, die von strikter Ablehnung des Nationalsozialismus bestimmt war. Dies ist vor allem auf meine resolute Mutter zurückzuführen. Mein Vater war wegen seiner Dienstverpflichtung in Fürstenwalde/Spree für mich nur während seines Jahresurlaubs und während der Weihnachtsferien verfügbar. Dadurch besaß meine Mutter für mich in anstehenden Lebensfragen die alleinige Deutungshoheit.

Zwei Stolpersteine am Bismarckring 18 erinnern an Julius und Flora Rothschild, die von den Nazis deportiert und ermordet wurden. Die Stolpersteine werden vor dem Haus im Bürgersteig verlegt, wo die Opfer wohnten. Foto: Hans Peter Schickel
Ständige Vorsicht nötig
Ich begriff sehr schnell, dass von ihrer Antihaltung zum herrschenden System der Nazis nichts nach draußen dringen durfte. Die geheime Staatspolizei (Gestapo) hatte ihre Ohren überall, das Denunziantentum war allgegenwärtig. Der Hausgemeinschaft in der Wellritzstraße 47, in der ich aufwuchs, gehörte ein kinderloses Ehepaar an, das aus seiner bedingungslosen Hitleranhängerschaft keinen Hehl machte. Mehrfach begegnete ich der Nachbarin, als sie auf leisen Sohlen durchs Treppenhaus schlich, wohl auf der akustischen Jagd nach Hörern von verbotenen Feindsendern.
Wer in der Unbefangenheit einer offenen Gesellschaft groß geworden ist, kann sich die ständige Anspannung und Vorsicht, außerhalb der vertrauten vier Wände kein falsches Wort zu verlieren, schwerlich vorstellen. Sicherheitshalber wurde ich immer wieder „vergattert“, nichts nach draußen verlauten zu lassen, wenn ich Ohrenzeuge einer kritischen Äußerung oder eines politischen Witzes im verlässlich kleinen Kreis vertrauter Personen geworden war.

Der Sohn des Ehepaars: Helmuth Rothschild bei einem Mahngang 1992 in Wiesbaden. Foto: Sabine Rosenberg
Nazis zerstören Geschäfte im Viertel
Eine meiner frühen Erinnerungen betrifft die berüchtigte Sportpalastrede von Joseph Goebbels, die am 13. Februar 1943 vom Reichsrundfunk übertragen wurde. Bekanntlich stellte er einem großen Auditorium (von dem wir heute wissen, dass es handverlesen war) dabei die Frage: „Wollt Ihr den totalen Krieg?“. Die Antwort war tosende Zustimmung. Ich war im Februar 1943 etwas mehr als sechs Jahre alt, ein Zeitzeuge zwar, der von allem aber nur dies verstand: dass meine wutentbrannte Mutter wie eine Berserkerin den Küchentisch umrundete (ich bin im Wesentlichen in der Küche aufgewachsen) und eine Verwünschung nach der anderen gegen den braunen Agitator ausstieß.
Von einem anderen Ereignis hat meine Mutter immer wieder erzählt und dadurch die Erinnerung daran in unserer Familie wachgehalten: Am Morgen des 9. November 1938 sei sie aufgeschreckt in die vordere Wellritzstraße gerannt, als sich herumgesprochen hatte, dass die Nazis jüdische Geschäfte zerstört und die Synagoge am Michelsberg in Brand gesteckt hatten. Ihre Sorge galt an erster Stelle dem Ehepaar Rothschild, das in der Wellritzstraße 28 ein Geschäft für Berufskleidung betrieb und mit dem sie gut bekannt war. Sie fand die Schaufenster des Geschäfts zerbrochen vor und erstarrte nach ihrer Schilderung vor Schreck, als sie in der Auslage eine liegende Figur erkannte, von der sie nach ihrem ersten Eindruck glaubte, es handele sich um den Sohn des Ehepaars Rothschild. Er war 1938 etwa 17,18 Jahre alt.
Feuerwehr löscht Brand nicht
Zu ihrer Erleichterung stellte sich bei genauerem Hinsehen heraus, dass es sich um eine umgefallene Schaufensterpuppe handelte, nicht um einen ermordeten Menschen. Mit ihrem empörten Bericht, die Feuerwehr sei angewiesen gewesen, die Wohnhäuser im Umkreis der brennenden Synagoge zu schützen, nicht aber den Brand des Gotteshauses zu löschen, machte sie mir den Unrechtscharakter des NS-Regimes ein weiteres Mal deutlich – nachträglich sozusagen, denn als Zweijähriger war mir ein direktes Erleben der heute sogenannten Reichspogromnacht noch nicht möglich.
Viel später, im Jahr 2002, wurden die Rathausfraktionen der SPD und der Grünen auf den Kölner Grafiker Gunter Demnig aufmerksam, der Anfang der 90er Jahre in Berlin-Kreuzberg und in Köln die ersten Stolpersteine verlegt hatte. Diese Gedenksteine für die Opfer des NS-Gewaltregimes fanden in der Wiesbadener Bevölkerung eine rasche positive Resonanz. Das „Stolpern“ ist symbolisch gemeint: Man stolpert gedanklich über den Namen auf dem Gehweg. 2006 übergab die Stadtpolitik die Organisation dieser Gedenkarbeit dem Aktiven Museum in der Spiegelgasse. Von ihm wird das Projekt seitdem kompetent und sorgfältig betreut. Inzwischen sind in Wiesbaden 651 Stolpersteine verlegt.
In Erinnerung an meine Mutter habe ich dem Ehepaar Julius und Flora Rothschild zwei Stolpersteine gewidmet und dabei erfahren, dass sie im Bismarckring 18 wohnten. Die Stolpersteine werden vor dem Haus im Bürgersteig verlegt, wo die Opfer wohnten. Julius Rothschild war am 11. Juni 1886 in Alsfeld geboren und wurde wohl schon am 11. November 1938 in das Konzentrationslager Buchenwald verbracht und dort am 18. Dezember 1938 ermordet. Flora Rothschild erblickte am 24. Februar 1886 als geborene Strauß in Bad Homburg das Licht der Welt, kam am 26. Juni 1939 nach Frankfurt am Main und wurde von dort am 19. Oktober 1941 in das Ghetto Lodz deportiert. Ermordet wurde sie im Vernichtungslager Chelmno (Kulmhof).
90 jüdische Opfer im Westend
Angesichts des unverhohlen gezeigten Hitlergrußes und des Sprechchores „Nationalsozialismus, jetzt, jetzt, jetzt!“ in Chemnitz und Köthen habe ich zwei mir bekannten Opfern des nationalsozialistischen Rassenwahns diesen Artikel gewidmet. Sie waren zwei von annähernd 90 jüdischen Opfern der NS-Verfolgung allein im Wiesbadener Westend. Sechs Millionen wurden von der braunen Vernichtungsindustrie insgesamt umgebracht. Angesichts dieser Bilanz ist es unfassbar und nicht hinnehmbar, dass aggressive Dummbeutel heute wieder ein Bekenntnis zu dieser mörderischen Weltanschauung ablegen.
Der Sohn der beiden Rothschilds schaffte es übrigens, Deutschland zu verlassen. Meine Mutter war der Meinung, er sei in die USA ausgewandert. Ich habe erst später erfahren, dass er sein Leben in Johannesburg in Südafrika verbrachte und regelmäßig Wiesbaden besuchte. Ich empfinde es als ein Versäumnis meines Lebens, dass ich ihm aus Unkenntnis nie begegnet bin.
Text: Hans Peter Schickel
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