
„Ahoi Herbert“: Auf seiner Abschiedsfeier hat Herbert Cartus eine lebensgroße Nachbildung erhalten. Ein Geschenk des Kinderzentrums in der Reduit Mainz-Kastel. Foto: Erdal Aslan
Ein Interview von Erdal Aslan
Herbert Cartus ist eine Institution in der Wellritzstraße. Seit über 33 Jahren ist der Pädagoge für das Kinderzentrum tätig, Generationen von Kindern im Westend haben ihn kennen- und schätzen gelernt. Am 31. Oktober geht Cartus nun offiziell in den Ruhestand. Im Interview blickt er auf seine Zeit im Westend zurück und erzählt, was er selbst als Erzieher im Umgang mit Kindern lernen musste und bei Eltern vermisst.
Herr Cartus, was überwiegt mehr: Freude auf mehr Freizeit oder Trauer nach so vielen Jahren im Kinderzentrum?
Ich freue mich, weil ich Veränderungen mag und diese auch annehme. Die tägliche Anwesenheitspflicht fällt jetzt weg und das ist schon befreiend. Keine Teams, keine langen Diskussionen mehr… (lacht)
War es denn so schlimm?
Nein, ganz im Gegenteil. Ich bin jedem meiner Kollegen im Kinderzentrum und auch der Stadt unendlich dankbar. Wir haben mit einem kleinen Team in den letzten Jahren einen Superjob gemacht. Im Rahmen unseres Konzepts durften wir schalten und walten, wie wir wollten. Wir haben uns einen guten Ruf erarbeitet, sodass andere Initiativen sich bei uns informieren.

Animateur und Moderator Herbert Cartus: Sein Programm ist ein Klassiker auf der alljährlichen „Sommerwiese“ an den Reisinger Anlagen. Archivfoto: Friedrich Windolf
Sind Sie denn im Nachhinein zufrieden mit Ihrer Laufbahn, mit der Berufswahl als Erzieher?
Ich habe davor ja zwei andere Berufe gelernt: Großhandelskaufmann und Krankenpfleger. Mein Leben war gekennzeichnet durch viele Glücksfälle und so habe ich auf den Rat einer Freundin gehört und später Erzieher in Bad Kreuznach gelernt. Und das ist meine wirkliche Berufung: Ich habe das Talent, mit Kindern zu kommunizieren und Beziehungen zu gestalten. Mein Humor erleichtert mir einiges dabei. Eine ältere Frau hat mich mal „Kinderflüsterer von Wiesbaden“ genannt. Ich denke, das trifft es ganz gut.
Was mussten Sie im Laufe der Jahre im Umgang mit Kindern lernen und an Ihrer Arbeitsweise ändern?
Gestartet bin ich als Erzieher – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich dachte damals, dass ich aus Kindern gute Menschen machen kann, muss. Ich will nicht sagen, dass ich gescheitert bin. Aber ich hatte oft das Gefühl, dass ich gegen eine Wand renne. Das hing auch mit der Frage zusammen: Bin ich überhaupt selbst ein guter Mensch – wieso will ich aus Kindern gute Menschen machen? Das hat mich immer mehr beschäftigt.
Und wie sieht Ihr Fazit aus?
Ich habe keine Kinder besser oder schlechter gemacht. Irgendwann kam ich darauf, dass ich gesagt habe, das Einzige was ich machen kann, ist die Beziehung zwischen ihnen und mir zu gestalten. Das hat Jahre gedauert – und ist auch nie abgeschlossen. Ich habe viel gelesen und bin zum Beispiel auf Jesper Juul und sein Buch „Aus Erziehung wird Beziehung“ gestoßen.
Hat das etwas mit antiautoritärer Erziehung zu tun?
Nein, dieser Begriff wurde verunstaltet. Kinder brauchen schon Führung und wollen das auch. Wichtig ist nur, dass man sich an dem Kind orientiert und sich das Okay von den Kindern einholt, dass man sie führen darf. Und das nicht allein aus der eigenen Funktion als Lehrer oder Erzieher erwartet. Das Okay holt man sich, indem man Vertrauen und somit eine Beziehung aufbaut. Eine gute Beziehung zu erleben, hat Einfluss auf den Charakter.

Alle sind gekommen: Die große (interne) Abschiedsfeier mit dem ganzen Team und vielen Wegbegleitern fand am 20. September im Kinderzentrum Wellritzhof statt. Foto: Erdal Aslan
An was mangelt es den Eltern heute, was konnten Sie beobachten?
Viele Eltern scheinen überfordert wegen der vielen Einflüsse von außen, die heutzutage auf sie und ihre Kinder einprasseln. Sie vergleichen sich und ihre Kinder zu oft mit anderen. Sie wollen unbedingt, dass aus ihren Kindern etwas wird. Kinder müssen zum Beispiel mit aller Gewalt Abitur machen. Aber wenn das Kind mal eine Klasse wiederholt, ist das eben so. Andere haben das auch gemacht und sind später erfolgreich geworden.
Sie wünschen sich mehr Gelassenheit von den Eltern?
Ja, unbedingt. Zudem fehlt ihnen heutzutage die Zeit zum aktiven Zuhören. Dabei ist das ein ganz wichtiger Aspekt, um die Themen und Talente herauszubekommen. Ohne zu bewerten oder zu sagen „Das kannst du nicht“, so schwer das manchmal auch fallen mag. Es ist wichtig, den Kindern eine eigene Identität zuzugestehen und nicht auf Biegen und Brechen etwas aus den Kindern „zu machen“. Da verzweifle ich manchmal an den Eltern.

Wo Herbert Cartus sein „Spielmobil Rolli“ parkt, ist immer viel los. Sei es beim kreativen Arbeiten mit Holz oder beim Kickern. Archivfoto: Friedrich Windolf
Wie versuchen Sie die Kinder im Kinderzentrum zu fördern?
Wir vermitteln den Kindern: Du bist gut, genau so wie du bist. Und dann geht es darum, ihre Talente herauszufinden. Ich biete ihnen Ideen an, aus denen sie selbst entscheiden können, was für sie infrage kommt. Kinder sind ihre eigenen Experten. Bei meinem Sohn habe ich zum Beispiel nie gedacht, dass er mal gebügelt und gestriegelt zur Arbeit fährt und ein teures Restaurant in München leitet. Ich wollte lieber einen langhaarigen Rockstar haben, aber wir haben ihn machen lassen und ihn unterstützt. Er ist da drin aufgegangen.
Was haben Sie selbst für eine Erziehung erlebt?
Ich hatte eine sehr strenge katholische Erziehung in meiner Heimat Hunsrück, Wertkonservatismus hat eine große Rolle gespielt. Fleiß, Disziplin, zur Kirche gehen, ich war auch Messdiener. Aber: Wir hatten damals um 12 Uhr Schulaus und dann konnten wir in den Wald gehen und unsere Zeit selbst frei gestalten. Und das ist etwas, was den Kindern heutzutage immer mehr abgeht. Kinder werden heute – pauschal gesagt – ständig betreut: von Ganztagsschulen, danach von Eltern, von Computerspielen und so weiter.
Hat sich bei den Kindern innerhalb der drei Jahrzehnte etwas verändert?
Kinder von heute sind im Vergleich zu dem, was wir angestellt haben, Waisenknaben. Aber Kinder sind Kinder, sie haben heute nur andere äußere Umstände. Sie wollen die Welt erobern, überschreiten Grenzen, genau wie damals bei uns. Da haben sich nur Methoden geändert. Unsere Lehrer hatten die gleichen Probleme wie mit den Kindern heute.
Im Westend leben viele Kinder von Migranten. Gibt es Sprachbarrieren und wenn ja, wie überwinden Sie sie?
Seit der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit 2007 sind viele Bulgaren mit Kindern gekommen, die gar kein Deutsch können. Wir kommunizieren über Augenkontakt, geben den Kindern das Gefühl, dass die Sprache nicht das Wichtigste ist – das ist auch Inklusionsarbeit. Die Kinder sind einfach da, wir machen daraus überhaupt kein Thema. Wir haben keine Berührungsängste und keine bestimmte Herangehensweise.

Sänger Herbert Cartus: die Gruppe Westwind bei einem Konzert am Stromberger Schlangenturm. Archivfoto: Benjamin Hilger
Gibt es einen Höhepunkt in Ihrer Laufbahn, den Sie gerne erzählen?
Ja! Der absolute Höhepunkt war, als vier Jungs aus der Wellritzstraße in der Mini-Playback-Show in Amsterdam aufgetreten sind. Das war eine TV-Show auf RTL mit Marijke Amado in den 90er Jahren. Die Jungs haben damals Breakdance getanzt, also haben Ottmar Schick und ich sie dort angemeldet. Es wurde monatelang gecastet, am Ende wurden sie tatsächlich eingeladen. Wir sind dann zusammen nach Holland gefahren. Die Kids wurden behandelt wie kleine Popstars. Später haben wir die TV-Aufzeichnung mit 200 Leuten im Georg-Buch-Haus geschaut. Die Jungs haben eine Medienkompetenz bekommen, das vergisst du dein ganzes Leben nicht. Das ist das Thema, wenn wir heute aufeinandertreffen.
Das heißt, die Kinder vergessen Sie nicht und erkennen Sie wieder?
Die erinnern sich alle – und das sind viele. Ich habe 33 Jahre lang diesen Job gemacht: Wenn man davon ausgeht, dass ich 100 Kinder pro Jahr begleiten konnte, kann man sich ausrechnen, wie viele bei mir waren. Sobald die mich sehen, wollen die mich einladen. Zu manchen habe ich noch heute Kontakt. Viele haben es geschafft und sich integriert.
Es gibt aber auch bestimmt negative Höhepunkte. An was denken Sie nicht so gerne zurück?
Wenn ich mitkriege, dass einer von den Jugendlichen im Gefängnis landet oder eine kriminelle Karriere hinlegt. Das beschäftigt mich und ich frage mich, wie das kommt. Wir haben ein paar Härtefälle gehabt und die haben dann tatsächlich so eine Karriere hingelegt. Teilweise war das abzusehen. Es gab aber auch extreme Härtefälle, die es später geschafft haben.
Sprechen Sie heikle Themen bei den Eltern an? Oder umgekehrt gefragt: Erzählen die Kinder auch mal von schlimmen Dingen, die zu Hause passieren?
Es gibt natürlich harte Dinge, die wir mitbekommen. Das Problem ist, dass wir eigentlich keinen Kontakt zu den Eltern haben, weil wir ja eine elternfreie Zone sind. Manchmal haben wir bei Vorfällen Eltern angerufen und dann gemerkt, was die Kinder zu Hause erwartet. Deshalb wägen wir immer ab, ob es das wert ist. Manchmal erzählen die Kinder auch von sich. Gewalt ist ein Thema, Respektlosigkeit. Der Aufenthaltsstatus ist manchmal auch ein Faktor. Die Eltern drücken ihnen auf: „Mach bloß nichts, was uns in Schwierigkeiten bringen könnte.“
Sie haben nicht nur in der Wellritzstraße gearbeitet, sondern sind auch ein großer Fan der Straße. Auf Facebook posten Sie auch gerne mal Bilder mit den Worten „Hallo Welt! Auch das ist Wellritzstraße“, um gegen das schlechte Image anzukämpfen. Was bedeutet diese Straße für Sie?
Hier wird Multikulti tagtäglich gelebt, weil es funktionieren muss mit den vielen Kulturen. Es ist ein Ort, der für mich sehr viele persönliche Kontakte zu Menschen ermöglicht hat, die mittlerweile selbst Eltern sind. Die Straße ist ein Pool für unglaubliche Geschichten. Aber auch ein Ort von Missverständnissen, weil man zu wenig voneinander weiß. Die Communities bleiben gerne unter sich.

Immer für einen Scherz zu haben: Herbert Cartus als Weihnachtsmann in der Wellritzstraße. Archivfoto: Erdal Aslan
Was müssen die Bevölkerungsgruppen im Westend machen, damit sie sich besser verstehen?
Ich sage immer: Bevor ich mich über kulturelle oder religiöse Gepflogenheiten von anderen aufrege, müssen wir in der eigenen Community vor der Haustür kehren. Es gibt genug Dinge, die man selbst verbessern muss statt sich über andere zu stellen. Meine Herzensangelegenheit ist, dass verschiedene Kulturen in der Wellritzstraße miteinander friedlich leben können. Weil die Straße ein Symbol ist – die Störenfriede kommen alle von außen. Da gibt es so viele Begegnungen, so viele Gespräche, auch durch die neue Fußgängerzone. Das werde ich in meinem Ruhestand noch mehr genießen.
Wie sieht der Plan für die Zeit nach dem Kinderzentrum sonst aus?
Zunächst kommt meine Abschiedsparty für die Kinder am 30. Oktober. Dann kommen Reisen – von Weihnachten bis Ostern werde ich im asiatischen Raum unterwegs sein. Seit einem halben Jahr bin ich Opa, daher will ich endlich meinen Enkel öfter besuchen. Dazu gibt es die freiberuflichen Sachen wie das Spielmobil Rolli, ich werde auch wieder Zauberkurse für „Schöne Ferien“ anbieten. Ich will zudem den neuen Spielplatz im Kinderzentrum noch ein wenig bespielen. Der wird ja nur nachmittags von 15 bis 18 Uhr genutzt. Ich könnte mir ein nettes Programm am Vormittag für Schulen vorstellen.
Sie werden den Kindern also verbunden bleiben.
Ja, solange ich die Kraft dazu habe, möchte ich mein Lebensthema Kinder beibehalten. Ich will ein Lobbyist für Kinderinteressen in dieser Stadt sein und nach wie vor Kindern eine Stimme geben. Außerdem bin ich ja nicht ganz weg, ich gebe meinen Schlüssel nicht ab (lacht). Ich werde das eine oder andere Angebot im Kinderzentrum machen oder mal einspringen, wenn Not am Mann ist.
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