
Das Möbelhaus Bauer an der Wellritzstraße/Ecke Helenenstraße im Jahr 1959.
Es ist eine Binsenweisheit, dass unser Leben dauerhaft von Veränderung bestimmt ist. „Panta rhei“ nannte das der griechische Philosoph Heraklit: Alles fließt. Dennoch schließt das nicht aus, dass man sich im Rückblick die Augen darüber reibt, wie viel sich in einer überschaubaren Zeitspanne verändert hat. Im Westend gilt das in besonderem Maße für die Geschäftswelt der Wellritzstraße.
In der Rückschau auf die 40er und 50er Jahre ist der Wandel im Vergleich zu heute besonders markant. So existierten in der Straße in meiner Kinder- und Jugendzeit drei Bäckereien, vier, zeitweise fünf Metzgereien und ein Laden, in dem es Molkereiprodukte, Käse und Eier zu kaufen gab – in der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit nur gegen Lebensmittelmarken. Ein Fischgeschäft wurde vom Besitzer betrieben, dessen Familienname Fleisch (!) lautete. Eines Tages tauchte dort ein größeres Kontingent lebender Landschildkröten auf, ohne Lebensmittelmarken frei erhältlich. Ob man meinte, damit sei eine nahrhafte Suppe herstellbar? Von Artenschutz hielt man jedenfalls nichts. Meine Familie hatte danach über Jahre eine Hausgenossin, die Lorchen getauft wurde und sich vorzugsweise von Löwenzahn- und Salatblättern ernährte.
Vielfältiges Geschäftsangebot
Von der einschränkenden Kriegswirtschaft abgesehen war das Branchenangebot von Vielfalt gekennzeichnet: Es gab zwei Drogerien, eine Apotheke, zwei Geschäfte für Sämereien, ein kleines Schuhgeschäft, eine Firma Melchior, die unter anderem Essbestecke im Angebot hatte. Ferner existierten zwei Schreibwarengeschäfte, die auch Zeitschriften und Illustrierte verkauften, zwei Gemüsehändler und der Kohlenhändler Storck, der für den Heizbedarf im Winter besonders wichtig war. Eine Firma, die Kurzwaren anbot, ein Blumengeschäft und ein kleines Geschäft für Damenwäsche und Dessous rundeten das Spektrum ab. Die Inhaberin der Schuhreparaturwerksatt Poths hatte den Ruf, eine offen bekennende Nationalsozialistin zu sein. Vor ihr nahm man sich in Acht. Ein Damen- und Herrensalon in der hinteren Wellritzstraße hatte lebhaften Zulauf. Sein Inhaber, Peter Schade, warb – wie damals in dieser Branche üblich – mit einem polierten, silbern blitzenden Baderteller, der über dem Geschäftseingang hing.

Heute ein Lebensmittelmarkt: die Wellritzapotheke an der Ecke Wellritzstraße/Schwalbacher Straße um das Jahr 1948.
Nach 1945 etablierte sich in der hinteren Wellritzstraße ein aufstrebender Mittelstandsbetrieb – die Firma Ofen-Möser, die die erste Generation der sogenannten Weißware unter die Leute brachte. Auch meine Familie erwarb dort auf Ratenzahlung den ersten elektrisch betriebenen Kühlschrank. In seiner Nähe residierte nach dem Krieg für viele Jahre auch der Teppichhandel Steinbauer. Überlebt aus dieser Zeit haben bis heute ein Tabak- und Zeitschriftenhandel in der hinteren Wellritzstraße, dessen äußeres Erscheinungsbild sich kaum verändert hat. Ebenso der Spezialist „Angel-Schäfer“ in der vorderen Wellritzstraße, der erst kürzlich aufgegeben hat und von einem Teeausschank abgelöst wurde. Und nicht zu vergessen – in seiner direkten Nachbarschaft die Szenekneipe „Bumerang“. Sie war in den 40 Jahren ihrer Existenz nicht nur für viele Stammgäste ein magischer Anziehungspunkt, sondern insbesondere dank Seelentrösterin Sylvie vor allem für Singles Wohnzimmer und Sozialstation.
In einem Gemüsehandel Ecke Wellritz-/ Helenenstraße vollzog sich ein vor aller Welt ausgetragenes Ehedrama: Eine junge Verkäuferin avancierte zur Favoritin des Firmenchefs, der in den Sommermonaten vorzugsweise in bayerischen Krachledernen auftrat. Die Alteingesessene ließ sich aber, scheinbar unbeeindruckt,_von ihrer dominanten Wächterrolle an der Kasse nicht verdrängen – Gesprächsstoff für das Dorf Wellritzstraße. Und dass ein früh verwitweter Metzger seinem Sohn die Braut ausspannte, die von dessen vorhandenem Vermögen womöglich mehr beeindruckt war als vom Jungspund – auch das war natürlich dankbarer Gesprächsstoff. Wie man sieht: Die Geschäftswelt der Wellritzstraße war auch damals voller Lebendigkeit, dem Krieg und dem Mangel zum Trotz.
Text: Hans Peter Schickel
Fotos: Stadtarchiv

Hans Peter Schickel