Von Martina Meisl
Seit 115 Jahren schon gibt es an dieser Straßenecke Brot und Kuchen. Der Bäckermeister Adolf Frenz eröffnete 1904 hier seine Backstube, kurz nachdem das Haus in der Blücherstraße 13 gebaut wurde. Seitdem ging der Betrieb durch mehrere Hände, bis 2008 mit Abdelmajid und Fouzia Kallouch die heutigen Inhaber die „Bäckerei am Blücherplatz“ übernommen haben.

Claus Helm, der Enkel des Gründers, erinnert sich. „Im Feldherrenviertel gab es früher massenhaft Bäckereien“, sagt der 76-Jährige und fängt an aufzuzählen. Die Finger einer Hand reichen nicht, denn an fast jeder Ecke war eine, und vom Dach des Hauses konnte man überall die hohen Schornsteine sehen. „Die stehen zum Teil sogar heute noch“, sagt Helm, der gerade dabei ist, ein Buch über die Geschichte des Hauses zu schreiben.
Hauslieferung per Beutel
In seiner Kindheit gehörte es zum Service, frühmorgens Brötchen in die unverschlossenen Häuser auszutragen und in Beuteln an die Wohnungstüren zu hängen, erzählt er. Die Hausfrauen jener Zeit konnten außerdem ihre vorbereiteten Kuchenbleche in die Bäckerei bringen, um sie im großen Backofen backen zu lassen. „Nachmittags holten sie dann die fertigen Kuchen wieder ab.“
Als Kind habe er selbst auch Bäcker werden wollen, sagt Helm, vor allem aus einem Grund: „Da kann ich die ganzen Torten selber essen“, war die Überlegung des damals Fünfjährigen. Es kam allerdings anders. Sein Onkel Emil, der als ausgebildeter Bäcker den Betrieb eigentlich hätte übernehmen sollen, war während des Krieges nicht aus Russland zurückgekehrt und gilt seither als vermisst. So blieb die Bäckerei nicht in der Familie, und Helm wurde nicht Bäcker, sondern Diplomvolkswirt.

Opernsänger hielt ein Jahr durch
1950 übernahm der damalige Obermeister der Bäckerinnung, Fritz Neidhöfer, die Bäckerei von Helms Großvater und führte sie bis 1966. Danach folgten einige kürzere Episoden. Einer der Nachfolger sang gleichzeitig im Chor des Staatstheaters. „Das konnte nicht lange gut gehen“, sagt Helm angesichts der Arbeitszeiten, und tatsächlich hielt der Opernsänger nur ein gutes Jahr durch.
Mit Bäckermeister Rudolf Held kam wieder Stabilität ins Haus. Er führte den Betrieb 27 Jahre lang und wohnte auch zunächst im Haus, bis er nach Bierstadt zog. Beinahe hätte danach Claus Helms Sohn Christian die Bäckerei übernommen und sie so wieder in die Familie zurückgeholt. „Das hätte mich sehr gefreut“, sagt der Hausbesitzer. Doch kurz vor dem Meisterkurs bekam der Bäckergeselle Asthma und musste seinen Beruf wegen einer Mehlallergie aufgeben.
„Abdelmajid Kallouch hat eine besondere soziale Begabung“
So kamen die Kallouchs ins Spiel. Claus Helm lobt die Familie mit den marokkanischen Wurzeln in den höchsten Tönen. „Der Chef hat eine besondere soziale Begabung“, sagt er. „Die Bäckerei ist das Kommunikationszentrum im Viertel.“ Sie ist inzwischen auch ein kleines Café und die Tische draußen sind fast immer besetzt, wie der Vermieter berichtet. Rentner, Handwerker, Schüler, Lehrer – ein bunt gemischtes Publikum. Hier trifft man sich, hier tauscht man sich aus, hier entstehen sogar Freundschaften, hat Abdelmajid Kallouch beobachtet.
Der 42-jährige Wiesbadener kennt seine Kundschaft: „Nach elf Jahren weiß ich, was die Stammgäste wollen“, sagt er. Älteren Gästen bringt er auch mal den Kaffee an den Tisch und er hat immer ein offenes Ohr für die Sorgen seiner Kunden. „Die Menschen vertrauen mir. Sie wissen, ich würde nie etwas weitererzählen.“ Und wenn jemand mal sein Portemonnaie vergessen hat, bekommt er seine Brötchen trotzdem. „Dann zahlt er eben beim nächsten Mal“, sagt der Vater von fünf Kindern.
Harter, aber liebenswerter Beruf
Sein Ältester, der 18-jährige Ilias, macht im Geschäft der Eltern eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann und komplettiert den Familienbetrieb. Um 3 Uhr aufstehen, sieben Tage die Woche im Laden stehen, nur selten Urlaub – Abdelmajid Kallouch liebt seinen Beruf, auch wenn er mitunter hart ist. Doch dafür entschädigt ihn der Kontakt mit den unterschiedlichsten Menschen in diesem multikulturellen Stadtteil. „Es ist ein wunderschönes Arbeiten“, findet er.