(red/hz) Die Kosten für die Entfernung der während der Wiesbaden Biennale errichteten Erdogan-Statue auf dem Platz der Deutschen Einheit belaufen sich für den Einsatz von Stadtpolizei und Feuerwehr auf knapp 10.500 Euro. Die Stadtverordnetenfraktion von Freien Wählern und Bürgerliste hat auf Anfrage diese Information erhalten.
„Erdogan-Statue hat uns weiter gespalten“ – Was die Biennale-Aktion bei Wiesbadener Türken und Kurden ausgelöst hat
Von Erdal Aslan
Auf dem ausgetrockneten Rasen des Quartiersplatzes, der vor zehn Tagen für 26 Stunden weltweite Aufmerksamkeit erregte, kicken sich zwei Jugendliche lässig einen Ball zu. Andere, zumeist Migranten, nutzen an diesem Spätsommernachmittag die Sitzmöglichkeiten aus Stein und genießen die warmen Temperaturen. Die Trinkerszene hat sich wieder am Rande des Areals niedergelassen. Der Alltag hat die Freizeitfläche am Platz der Deutschen Einheit eingeholt. Das Getöse um die goldfarbene Statue des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan ist verklungen. Zumindest an der Oberfläche.
Kommentar zur Erdogan-Statue der Wiesbaden Biennale von M!W-Leiter Erdal Aslan
Erdal Aslan, redaktioneller Leiter von Mensch!Westend, kommentiert die Reaktionen zur Erdogan-Statue:
Zwei Wochen ist es nun her, dass unser Platz der Deutschen Einheit weltweit in die Schlagzeilen geriet. Der goldene Erdogan der Wiesbaden Biennale hat das Westend für 26 Stunden aufgemischt. Die Statue ist weg, aber die Reaktionen hallen nach. „Kunst ist frei“, rief Uwe Eric Laufenberg, Intendant des Hessischen Staatstheaters, in Richtung der Kritiker der Aktion. Ja, Kunst und auch Presse müssen frei bleiben. Aber beides ist auch nicht frei von Kritik. Wenn die Türkisch- und Kurdischstämmigen im Viertel – ob nun Erdogan-Fans oder -Gegner – einhellig sagen, dass die Aktion ihre Fronten verhärtet hat, müssen auch die Befürworter der Statue hinhören. Denn diese Menschen versuchen, im Alltag friedlich miteinander auszukommen. Wenn dann solche hitzigen Situationen wie am Platz entstehen, reißt das ihre gesellschaftliche Wunde immer wieder auf. Continue reading
Zeitlicher Ablauf: Der Auf- und Abbau der Erdogan-Statue in Wiesbaden
• Am Montagabend, 27. August, wird eine weiß verhüllte Statue am Quartiersplatz aufgestellt, die kurze Zeit später enthüllt wird. Sofort kursieren Bilder und Videos in den sozialen Netzwerken mit dem vier Meter hohen „goldenen Erdogan“. Die Polizisten des unweit gelegenen 1. Reviers sind auch überrascht. Continue reading
Erdogan-Statue, neuer Sedanplatz und Naziregime: Neue Ausgabe von Mensch!Westend erschienen
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Für 26 Stunden mischte die Erdogan-Statue am Platz der Deutschen Einheit das Westend auf. Was hat die Biennale-Aktion bei den Türkisch- und Kurdischstämmigen im Viertel ausgelöst und welche Auswirkungen hat sie auf das Zusammenleben? Damit beschäftigt sich die Titelgeschichte der September-Ausgabe von Mensch!Westend (M!W).
Nach Auseinandersetzungen: Erdogan-Statue in Wiesbaden vorzeitig abgebaut
Von Olaf Streubig
Die umstrittene Erdogan-Statue auf dem Platz der Deutschen Einheit ist am späten Dienstagabend abgebaut worden. Grund dafür waren ein immer größer werdender Aufmarsch von Gegnern und Unterstützern des türkischen Präsidenten, die sich einander teilweise feindselig gegenüberstanden. Rund um das im Rahmen des Kunstfestivals Biennale aufgestellten Objekts waren um 21.30 Uhr nach Angaben von Ordnungsdezernent Oliver Franz bereits mehr als 300 Menschen versammelt: „Zu verbalen Auseinandersetzungen kamen zunehmend auch Handgreiflichkeiten. Auch Stichwaffen wurden gesichtet“, berichtet Franz. Die ihm unterstellte Ordnungspolizei sei mit zehn Kräften, die Landespolizei mit knapp 100 Einsatzkräften vor Ort gewesen.
Goldene Erdogan-Statue steht bis zum 2. September in Wiesbaden – „Kontroversen sind Teil des Kunstwerks“
Erdogan-Statue steht auf dem Platz der Deutschen Einheit – Aktion der Wiesbaden Biennale
Von Erdal Aslan
Große Verwunderung am späten Abend im Wiesbadener Westend: Auf einmal steht Recep Tayyip Erdogan mitten auf dem Platz der Deutschen Einheit. Eine etwa vier Meter große goldene Statue des türkischen Staatspräsidenten ist am Montag am Quartiersplatz enthüllt worden, nicht weit entfernt vom 1. Polizeirevier. Teilweise unter Jubel einiger Anwesender. Die Statue ist eine Aktion des Kunstfestivals „Wiesbaden Biennale“, die dieses Jahr unter dem Motto „Bad News“ läuft und nicht selten auf Provokation setzt.
„Kanakisiert euch!“ – Gastautorin Tunay Önder plädiert für eine postmigrantische Perspektive
Im Rahmen des Festivals „Wiesbaden Biennale“ wird die Bloggerin, Autorin und Aktivistin Tunay Önder ab dem 23. August elf Tage lang einen sogenannten Migrantenstadl in der Wartburg veranstalten. In ihrem Gastbeitrag schreibt sie aus der Sicht eines Gastarbeiterkindes, welcher Perspektivwechsel nötig ist in einer postmigrantischen Gesellschaft.
Von Tunay Önder
Als Kind von Gastarbeitern in Deutschland hängt der Wunsch, die Gesellschaft neu zu erfinden, mit einer ganz spezifischen Erfahrung zusammen: im eigenen Geburtsland und Lebensraum den Ausländer-Status zugewiesen zu bekommen. Die damit zusammenhängenden Lebensumstände und -bedingungen erscheinen einem in den unbewussten Jahren der Sozialisation als die ganz normale Ordnung der Welt, die es hinzunehmen und zu verinnerlichen gilt. Seien es nun prekäre Wohn- und Arbeitsverhältnisse der Eltern oder rassistische An- und Zurechtweisungen, mit denen man in der Schule, auf der Straße, in Behörden und Medien konfrontiert wird.
Nach Wahl in der Türkei: Was Wiesbadener Türken im Westend über das Ergebnis denken
Einen Tag nach der Präsidentschaftswahl am Sonntag in der Türkei steht fest: Recep Tayyip Erdogan ist der erste Präsident des neu eingeführten Präsidialsystems. Mit 52,6 Prozent der Stimmen hat der Amtsinhaber die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen gewonnen. Die parallel geführten Parlamentswahlen hat ebenfalls die Regierungspartei AKP für sich entschieden. Viele im Wiesbadener Westend lebende und arbeitende Türken verfolgen das politische Geschehen im Herkunftsland aktuell am Handy oder Fernseher. Die Meinungen zu den Wahlergebnissen gehen stark auseinander, vielerorts diskutieren Menschen bei einem Tee über das Thema des Tages. Doch der gesellschaftliche Druck ist spürbar: Viele Befragte möchten sich gar nicht beziehungsweise nicht mit Namen in der Öffentlichkeit äußern.

Recep Tayyip Erdogan, Staatspräsident der Türkei, winkt vor der AKP-Parteizentrale seinen Unterstützern. Foto: dpa
„Wenn ich für Erdogan bin, werde ich in Deutschland für meine Meinung angegriffen. Wenn ich etwas gegen Erdogan sage, habe ich Sorge, dass ich Probleme bekomme, wenn ich in die Türkei fliege“, beschreibt ein Gewerbetreibender in der Wellritzstraße das Dilemma vieler Türken. Ohne seinen Namen zu nennen, beurteilt er die Wahl zweigeteilt: „Insgesamt ist Erdogan für die Stabilität der Türkei vielleicht am besten. Trotzdem frage ich und kritisiere, warum zum Beispiel so viele Menschen seit dem Putschversuch verhaftet worden sind und seit Monaten ohne Urteil oder Prozess in Untersuchungshaft stecken.“
„Wahl schon vor einem Jahr entschieden“
Einige Meter weiter sitzen zwei ältere Männer vor einer Teestube und spielen entspannt Backgammon. „Die Wahl ist für mich schon seit einem Jahr entschieden. Erdogan hat so viele Leute verhaftet und so viele wichtige Positionen neu besetzt, also Vetternwirtschaft betrieben, sodass sie eigentlich gar nicht mehr verlieren konnten“, äußert sich der Erdogan-Gegner kritisch. Ein Zuschauer des Backgammonspiels und Erdogan-Wähler will, nachdem er die Meinung seines Bekannten gehört hat, etwas dazu sagen. „Warum nennen sie ihn in Deutschland einen Diktator, obwohl er von 20 Millionen Menschen gewählt worden ist? Erdogan ist jemand, der sich eben nicht von den sogenannten führenden Staaten der Welt etwas sagen lässt oder von ihnen einschüchtern lässt, sondern auch Kontra gibt“, entgegnet de rErdogan-Sympathisant. Erdogan habe unzählige wichtige Projekte, wie etwa zuletzt den Flughafen in Istanbul, in der Türkei realisiert, deshalb wähle ihn das Volk.
Trotz der unterschiedlichen Ansichten kann man im Westend nicht von einer tiefen Spaltung der Wiesbadener Türken sprechen. Man redet miteinander, auch wenn man weiß, das der Gegenüber politisch komplett anders tickt, bestätigen Abdulbaki Yesilbas und Hasan Urcanli. Sie sitzen gemeinsam vor einer Bäckerei in der Wellritzstraße und sind auch bereit, ihre Namen zu nennen. „Ich habe an der Wahl teilgenommen und habe als Sozialdemokrat traditionell die CHP gewählt. Ich hatte großen Hoffnungen in Muharrem Ince, habe auch wirklich erwartet, dass er es schafft, Erdogan zu schlagen“, sagt der 48 Jahre alte Urcanli enttäuscht. Ince, der Kandidat der CHP, sammelte 30,6 Prozent der Stimmen bei der Wahl. „Aber so ist die Demokratie, man muss jetzt akzeptieren, wer gewählt worden ist und das Beste daraus machen. Und: Man darf sich nicht davon täuschen lassen, dass während der Wahlkampagne Millionen Anhänger zu einer Kundgebung kommen, denn am Ende wählt das Volk“, sagt Urcanli, der sich Ince als zukünftigen Vorsitzenden der Partei CHP wünscht. „Ich glaube auch als Erdogan-Gegner nicht, dass aus der Türkei eine Diktatur werden kann, weil das Volk das im Endeffekt verhindern würde.“
„Er kann kein Diktator werden“
Für seinen Gesprächspartner am Stehtisch ist das ohnehin ausgeschlossen: „Jemand, der so viel für die Menschen gemacht hat, der zum Beispiel 3,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat, der immer noch per Wahl gestürzt werden kann, der kann kein Diktator werden“, meint Abdulbaki Yesilbas. Der 48-Jährige ist überzeugter AKP-Wähler. „Für mich war der Sieg im ersten Wahlgang absolut keine Überraschung, ich hatte eigentlich mit mehr Stimmen für Erdogan gerechnet.“ Den Erfolg von Erdogan begründet er damit, dass der Präsident die große religiöse Schicht in der Türkei vertritt und vor allem wirtschaftlich in den vergangenen Jahren das Land vorangebracht habe. „Um es plakativ auszudrücken: Früher hatten einige keinen Esel und heute fahren sie ein Auto. Ebenso kenne ich zum Beispiel aus meiner Heimatstadt in der Südosttürkei keinen mehr, der keine Wohnung oder ein Haus hat.“ Yesilbas meint, dass der Wahlkampf von Ince heuchlerisch war, weil er versucht habe, den Mann des Volkes zugeben, der er eigentlich nicht ist.
Für beide ist es nicht überraschend, dass die Mehrheit der 1,4 Millionen wahlberechtigten Türken in Deutschland Erdogan gewählt haben. Erdogan hat hierzulande insgesamt rund 65 Prozent erhalten, seine Partei AKP etwa 55 Prozent bekommen. Die Wahlbeteiligung lag über 45 Prozent. „Das war keine Überraschung, weil auch bei den letzten Wahlen ähnlich gestimmt worden ist.“ Die Wahlen würden die Zusammensetzung der in Deutschland leben Türken gut widerspiegeln, sind sich beide einig.
Text: Julia Kleiner und Erdal Aslan
Fotos: VRM, Erdal Aslan