Es ist ein Tag, für den der Ausdruck goldener Oktober erfunden worden ist. Knapp drei Wochen vor der hessischen Landtagswahl herrscht bei strahlendem Sonnenschein Hochbetrieb vor den Kaffeehäusern in der Wellritzstraße. Auch an den Stehtischen vor der „Westend Bäckerei“ wird eifrig diskutiert. Drinnen ist der Chef zu Späßen aufgelegt. „Dieses Jahr wähle ich AfD“, verkündet Erol Erdem lachend und erhält umgehend Zustimmung von einem seiner Gäste. Auf die leichte Schulter nimmt er die politischen Ansichten der Partei mit dem Namen „Alternative für Deutschland“ aber auf keinen Fall. „Als Muslim hat man schon Angst vor der Islamophobie und dass sich so was Ähnliches wie die Hitlerzeit wiederholt“, erläutert der Deutsche mit türkischen Wurzeln.
Nach Wahl in der Türkei: Was Wiesbadener Türken im Westend über das Ergebnis denken
Einen Tag nach der Präsidentschaftswahl am Sonntag in der Türkei steht fest: Recep Tayyip Erdogan ist der erste Präsident des neu eingeführten Präsidialsystems. Mit 52,6 Prozent der Stimmen hat der Amtsinhaber die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen gewonnen. Die parallel geführten Parlamentswahlen hat ebenfalls die Regierungspartei AKP für sich entschieden. Viele im Wiesbadener Westend lebende und arbeitende Türken verfolgen das politische Geschehen im Herkunftsland aktuell am Handy oder Fernseher. Die Meinungen zu den Wahlergebnissen gehen stark auseinander, vielerorts diskutieren Menschen bei einem Tee über das Thema des Tages. Doch der gesellschaftliche Druck ist spürbar: Viele Befragte möchten sich gar nicht beziehungsweise nicht mit Namen in der Öffentlichkeit äußern.

Recep Tayyip Erdogan, Staatspräsident der Türkei, winkt vor der AKP-Parteizentrale seinen Unterstützern. Foto: dpa
„Wenn ich für Erdogan bin, werde ich in Deutschland für meine Meinung angegriffen. Wenn ich etwas gegen Erdogan sage, habe ich Sorge, dass ich Probleme bekomme, wenn ich in die Türkei fliege“, beschreibt ein Gewerbetreibender in der Wellritzstraße das Dilemma vieler Türken. Ohne seinen Namen zu nennen, beurteilt er die Wahl zweigeteilt: „Insgesamt ist Erdogan für die Stabilität der Türkei vielleicht am besten. Trotzdem frage ich und kritisiere, warum zum Beispiel so viele Menschen seit dem Putschversuch verhaftet worden sind und seit Monaten ohne Urteil oder Prozess in Untersuchungshaft stecken.“
„Wahl schon vor einem Jahr entschieden“
Einige Meter weiter sitzen zwei ältere Männer vor einer Teestube und spielen entspannt Backgammon. „Die Wahl ist für mich schon seit einem Jahr entschieden. Erdogan hat so viele Leute verhaftet und so viele wichtige Positionen neu besetzt, also Vetternwirtschaft betrieben, sodass sie eigentlich gar nicht mehr verlieren konnten“, äußert sich der Erdogan-Gegner kritisch. Ein Zuschauer des Backgammonspiels und Erdogan-Wähler will, nachdem er die Meinung seines Bekannten gehört hat, etwas dazu sagen. „Warum nennen sie ihn in Deutschland einen Diktator, obwohl er von 20 Millionen Menschen gewählt worden ist? Erdogan ist jemand, der sich eben nicht von den sogenannten führenden Staaten der Welt etwas sagen lässt oder von ihnen einschüchtern lässt, sondern auch Kontra gibt“, entgegnet de rErdogan-Sympathisant. Erdogan habe unzählige wichtige Projekte, wie etwa zuletzt den Flughafen in Istanbul, in der Türkei realisiert, deshalb wähle ihn das Volk.
Trotz der unterschiedlichen Ansichten kann man im Westend nicht von einer tiefen Spaltung der Wiesbadener Türken sprechen. Man redet miteinander, auch wenn man weiß, das der Gegenüber politisch komplett anders tickt, bestätigen Abdulbaki Yesilbas und Hasan Urcanli. Sie sitzen gemeinsam vor einer Bäckerei in der Wellritzstraße und sind auch bereit, ihre Namen zu nennen. „Ich habe an der Wahl teilgenommen und habe als Sozialdemokrat traditionell die CHP gewählt. Ich hatte großen Hoffnungen in Muharrem Ince, habe auch wirklich erwartet, dass er es schafft, Erdogan zu schlagen“, sagt der 48 Jahre alte Urcanli enttäuscht. Ince, der Kandidat der CHP, sammelte 30,6 Prozent der Stimmen bei der Wahl. „Aber so ist die Demokratie, man muss jetzt akzeptieren, wer gewählt worden ist und das Beste daraus machen. Und: Man darf sich nicht davon täuschen lassen, dass während der Wahlkampagne Millionen Anhänger zu einer Kundgebung kommen, denn am Ende wählt das Volk“, sagt Urcanli, der sich Ince als zukünftigen Vorsitzenden der Partei CHP wünscht. „Ich glaube auch als Erdogan-Gegner nicht, dass aus der Türkei eine Diktatur werden kann, weil das Volk das im Endeffekt verhindern würde.“
„Er kann kein Diktator werden“
Für seinen Gesprächspartner am Stehtisch ist das ohnehin ausgeschlossen: „Jemand, der so viel für die Menschen gemacht hat, der zum Beispiel 3,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat, der immer noch per Wahl gestürzt werden kann, der kann kein Diktator werden“, meint Abdulbaki Yesilbas. Der 48-Jährige ist überzeugter AKP-Wähler. „Für mich war der Sieg im ersten Wahlgang absolut keine Überraschung, ich hatte eigentlich mit mehr Stimmen für Erdogan gerechnet.“ Den Erfolg von Erdogan begründet er damit, dass der Präsident die große religiöse Schicht in der Türkei vertritt und vor allem wirtschaftlich in den vergangenen Jahren das Land vorangebracht habe. „Um es plakativ auszudrücken: Früher hatten einige keinen Esel und heute fahren sie ein Auto. Ebenso kenne ich zum Beispiel aus meiner Heimatstadt in der Südosttürkei keinen mehr, der keine Wohnung oder ein Haus hat.“ Yesilbas meint, dass der Wahlkampf von Ince heuchlerisch war, weil er versucht habe, den Mann des Volkes zugeben, der er eigentlich nicht ist.
Für beide ist es nicht überraschend, dass die Mehrheit der 1,4 Millionen wahlberechtigten Türken in Deutschland Erdogan gewählt haben. Erdogan hat hierzulande insgesamt rund 65 Prozent erhalten, seine Partei AKP etwa 55 Prozent bekommen. Die Wahlbeteiligung lag über 45 Prozent. „Das war keine Überraschung, weil auch bei den letzten Wahlen ähnlich gestimmt worden ist.“ Die Wahlen würden die Zusammensetzung der in Deutschland leben Türken gut widerspiegeln, sind sich beide einig.
Text: Julia Kleiner und Erdal Aslan
Fotos: VRM, Erdal Aslan
Umfrage: Ist es sinnvoll, dass Migranten in ihrem Herkunftsland mitwählen dürfen?

Hunderte Meter lange Schlangen wie am türkischen Konsulat in Mainz gab es bis zum 19. Juni in Deutschland, weil Türken bei den Wahlen teilnehmen wollten.
Knapp 1,4 Millionen Türken aus Deutschland sind für die bevorstehenden Wahlen in der Türkei wahlberechtigt. Sie konnten bis zum 19. Juni ihre Stimme in den Konsulaten hierzulande abgeben, bis zum 24. Juni können sie das noch an den Grenzen zur Türkei tun. Nicht nur Türken in Deutschland, auch Menschen anderer Nationalitäten können in ihrem Heimatland an Wahlen teilnehmen. Doch macht es Sinn, dass sie mitwählen dürfen, wenn sie nicht in dem jeweiligen Land leben? Also im Alltag auch nicht von der Politik in ihrem Herkunftsland betroffen sind?
Pasquale Casella, 28 Jahre alt, italienischer Staatsangehöriger: „Ich kann die Leute verstehen, die für ihr Herkunftsland wählen, wenn sie lange dort gelebt haben oder ein Teil der Familie noch dort wohnt. Aber prinzipiell finde ich es Quatsch, dass Leute an den Wahlen in ihrem Herkunftsland teilnehmen, wenn sie in Deutschland leben. Die meisten haben doch nicht wirklich Ahnung, was alltäglich in ihrem Land abgeht. Ich selbst habe einen italienischen Pass und gehe nicht wählen. Ich bin in Wiesbaden geboren. Deshalb habe ich keinen großen Bezug zu Italien und auch nicht zu der Politik dort. Ich kann mir auch nicht vorstellen aus Deutschland wegzuziehen.“
Noor Youfi, 20 Jahre alt, tunesische Staatsangehörige: „Ich wohne erst seit einem Jahr in Deutschland und studiere hier, aber meine Eltern leben in Tunesien. Daher habe ich einen engen Bezug zu meinem Heimatland und möchte nur das Beste für mein Land. Ich bin der Meinung, man sollte an den Wahlen in seinem Herkunftsland teilnehmen. Man weiß ja nie, ob man nicht doch mal in sein Heimatland zurückziehen möchte. Deshalb sollte man von seinem Recht Gebrauch machen und auch die Verantwortung, die man mit dem Wahlrecht erhält, mittragen. Ich habe einen tunesischen Pass und habe bis jetzt noch nie gewählt, kann mir aber gut vorstellen, bei der nächsten Wahl teilzunehmen. Eben weil ich mich verantwortlich fühle für mein Land.“
Gürbüz Yildiz, 50 Jahre alt, türkischer Staatsangehöriger: „Ich lebe seit über 30 Jahren hier, meine Kinder sind deutsche Staatsbürger. Daher ist es mir zunächst wichtig, dass Deutschland wirtschaftlich und politisch gut geführt wird. Dennoch pflege ich weiterhin enge Beziehungen zur Türkei, wo ich aufgewachsen bin. Meine Eltern und Geschwister leben dort, ich bin zwei, drei Mal im Jahr bei ihnen. Deshalb finde ich es wichtig, auch von hier aus mitwählen und mitbestimmen zu können, von wem die Türkei geführt wird. Geht es dem Land zum Beispiel wirtschaftlich gut, geht es auch meinen Verwandten gut und sie brauchen weniger Unterstützung von mir. Außerdem ist das Wahlrecht ein Privileg, von dem man Gebrauch machen sollte, egal wo man lebt.“
Sabine Keller, 56 Jahre alt, deutsche Staatsangehörige: „Es kommt darauf an, wie verbunden die Menschen mit ihrem Herkunftsland sind. Vielleicht wollen sie ja auch nochmal in das Land zurück oder es weiterhin mitgestalten. Wenn man die Staatsangehörigkeit besitzt und in dem Sinn noch Bürger des Landes ist, sollte man auch das Recht zu wählen wahrnehmen. Ich habe einen deutschen Pass und möchte auch in Deutschland wohnen bleiben. Sollte ich aber mal auswandern, würde ich auch mein Heimatland noch mitgestalten wollen. Ich kann auch verstehen wenn Migranten ihre ausländische Staatsbürgerschaft behalten wollen, grade wenn sie noch nicht lange in Deutschland sind.
Umfrage & Fotos: Julia Kleiner